Cantor-Menge und Cantor-Funktion
Jede nichtleere offene Menge U enthält ein Intervall positiver Länge, d. h., es gibt a < b mit ] a, b [ ⊆ U. Wir betrachten folgende Frage:
Enthält jede überabzählbare abgeschlossene Menge ein Intervall positiver Länge?
Die Antwort ist nein. Ein Gegenbeispiel liefert eine von Cantor entdeckte Menge, die durch wiederholtes Entfernen von offenen mittleren Drittelintervallen von [ 0, 1 ] definiert werden kann. Wir setzen hierzu
C0 = [ 0, 1 ]
und entfernen aus C0 das offene mittlere Drittelintervall ] 1/3, 2/3 [. Wir erhalten so
C1 = [ 0, 1/3 ] ∪ [ 2/3, 1 ].
Nun entfernen wir aus C1 die beiden offenen mittleren Drittelintervalle und erhalten
C2 = [ 0, 1/9 ] ∪ [ 2/9, 3/9 ] ∪ [ 6/9, 7/9 ] ∪ [ 8/9, 1 ].
So fortfahrend erhalten wir abgeschlossene Teilmengen
C0 ⊇ C1 ⊇ … ⊇ Cn ⊇ …
des Intervalls [ 0, 1 ]. Wir definieren nun:
Definition (Cantor-Menge)
Die Menge C = ⋂n Cn heißt die Cantor-Menge.
Die wichtigsten Eigenschaften der Cantor-Menge sind:
Satz (über die Cantor-Menge)
(a) | C ist perfekt. |
(b) | C ist überabzählbar. Genauer gilt |C| = |ℝ|. |
(c) | C enthält kein Intervall [ a, b ] mit a < b. |
(d) | bd(C) = C. |
Beweis
zu (a): Da alle Cn abgeschlossen sind, ist auch ihr Durchschnitt C abgeschlossen. Ist P die Menge der Randpunkte der Intervalle der Mengen Cn, so ist P ⊆ C und jedes Element von C ist ein Häufungspunkt von P, sodass P′ = C. Damit ist C perfekt.
zu (b): Für jede 0-1-Folge (bn)n ≥ 1 definieren wir Teilintervalle Dn der Mengen Cn, indem wir D0 = C0 setzen und rekursiv Dn + 1 als das linke oder rechte Drittelintervall von Dn definieren, je nach dem, ob bn = 0 oder bn = 1 gilt. Jeder 0-1-Folge können wir so ein Element von C zuordnen, nämlich das eindeutige Element im Durchschnitt aller Intervalle Dn. Diese Zuordnung liefert eine Bijektion zwischen allen 0-1-Folgen und C. Da es zudem eine Bijektion zwischen ℝ und allen 0-1-Folgen gibt, ist C gleichmächtig zu ℝ.
zu (c): Sei ε > 0, und sei n derart, dass (2/3)n < ε. Dann enthält Cn kein Intervall der Länge ε. Also enthält auch C ⊆ Cn kein solches Intervall.
zu (d): Nach (a) und (c) gilt
bd(C) = cl(C) − int(C) = C − ∅ = C.
Die Cantor-Menge lässt sich auch mit Hilfe der 3-adischen Entwicklung reeller Zahlen elegant darstellen:
Satz (3-adische Darstellung der Cantor-Menge)
C = | { x ∈ [ 0, 1 ] | x besitzt eine 3-adische Darstellung, in der nur die Ziffern 0 und 2 vorkommen } = |
{ ∑k ≥ 1 ak/3k | (ak)k ≥ 1 ist eine Folge in { 0, 2 } }. |
Zum Beweis des Satzes ordnet man in Analogie zum Beweis von (b) jedem Element x von C eine 0-2-Folge zu, die den links-rechts-Pfad beschreibt, der innerhalb der Mengen Cn zu x führt. Wir diskutieren diese Darstellung in den Ergänzungen E4 genauer.
Die Cantor-Menge taucht in vielen topologischen und maßtheoretischen Fragestellungen als Generator für Gegenbeispiele auf. Sie lässt sich zum Beispiel zur Konstruktion von Peano-Kurven verwenden (vgl. den Ausblick in 3.1). Hier betrachten wir noch eine Anwendung für die Integrationstheorie.
Cantor-Menge und Riemann-Integral
Die Indikator-Funktion 1C : [ 0, 1 ] → ℝ der Cantor-Menge ist keine Regelfunktion, da keine Treppenfunktion im offenen 1/2-Schlauch um 1C liegt (oder da der Grenzwert limx ↓ 01C(x) nicht existiert). Für das Riemann-Integral ist die Funktion 1C überraschenderweise noch zugänglich:
Satz (Riemann-Integral über 1C)
Die Indikatorfunktion 1C : [ 0, 1 ] → ℝ der Cantor-Menge ist integrierbar mit I(1C) = 0. Allgemeiner gilt dies für 1P : [ 0, 1 ] → ℝ für alle P ⊆ C.
Damit ist C eine überabzählbare Teilmenge der reellen Zahlen der Riemann-Jordan-Länge L(C) = I(1C) = 0.
Beweis
Für alle n ist die Treppenfunktion 1Cn : [ 0, 1 ] → ℝ integrierbar mit I(1Cn) = (2/3)n, sodass
(+) limn I(1Cn) = 0.
Ist nun P ⊆ C und ε > 0, so gibt es ein n mit I(1Cn) < ε. Dann ist aber
0 ≤ s 1P ≤ S 1P ≤ S 1C ≤ S 1Cn = I(1Cn) < ε.
Hieraus folgen alle Behauptungen.
Entscheidend ist, dass sich Längen 1/3 + 2/9 + 4/27 + … der entfernten Intervalle zu 1 aufsummieren (dies ist äquivalent zu (+)). Entfernen wir in einer analogen Konstruktion Teilintervalle mit einer Gesamtlänge kleiner als 1, so ist die Indikatorfunktion der verbleibenden Menge nicht mehr Riemann-integrierbar.
Mit Hilfe des Satzes können wir ein offenes Problem aus dem ersten Abschnitt lösen. Wir verwenden dabei die Sprechweise
„es gibt M-viele x mit der Eigenschaft ℰ(x)“.
Dies bedeutet, dass |M| = |{ x | ℰ(x) }|.
Korollar (Mächtigkeit der Riemann-integrierbaren Funktionen)
Es gibt ℘(ℝ)-viele Riemann-integrierbare Funktionen auf [ 0, 1 ]. Insbesondere ist nicht jede Riemann-integrierbare Funktion ein punktweiser Limes von Treppenfunktionen.
Beweisskizze
Die erste Aussage folgt aus dem vorangehenden Satz, da |℘(C)| = |℘(ℝ)|.
Zum Zusatz: Es gibt ℝ-viele Treppenfunktionen auf [ 0, 1 ], da jede Treppenfunktion durch eine endliche Folge von reellen Zahlen gegeben ist (Zerlegungspunkte und Werte), und da die Menge aller endlichen Folgen in ℝ die Mächtigkeit von ℝ hat. Damit gibt es ℝℕ-viele Folgen von Treppenfunktionen. Da |ℝ| = |ℝℕ| gilt, gibt es nur ℝ-viele derartige Folgen, und damit gibt es höchstens ℝ-viele Funktionen auf [ 0, 1 ], die ein punktweiser Limes von Treppenfunktionen sind.
Aus der Sicht der Mächtigkeitstheorie ist der Unterschied zwischen dem Riemann-Integral und dem Regelintegral also enorm: Es gibt nur |ℝ|-viele Regelfunktionen, aber |℘(ℝ)|-viele Riemann-integrierbare Funktionen.
Die Cantor-Funktion
Mit Hilfe der Cantor-Menge lässt sich die Cantor-Funktion oder Teufelstreppe f : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] definieren. Wir bauen f schrittweise auf. Zunächst setzen wir f (0) = 0 und f (1) = 1. Nun betrachten wir die Abschlüsse der in der Konstruktion von C entfernten Drittelintervalle, also die Intervalle
I0 = [ 1/3, 2/3 ], I1 = [ 1/9, 2/9 ], I2 = [ 7/9, 8/9 ], I3 = [ 1/27, 2/27 ], …
und definieren f rekursiv auf diesen Intervallen: Wir setzen f konstant gleich c auf In, wobei c das arithmetische Mittel der bereits definierten Funktionswerte der beiden Stellen ist, die unmittelbar links und rechts von In liegen. Die Funktion f ist also konstant gleich 1/2 auf [ 1/3, 2/3 ], konstant gleich 1/4 auf [ 1/9, 2/9 ], konstant gleich 3/4 auf [ 7/9, 8/9 ] usw. Die folgenden Diagramme visualisieren diese Konstruktion.
Damit haben wir eine monoton steigende Funktion
f : J → [ 0, 1 ], J = { 0, 1 } ∪ ⋃n ∈ ℕ In
konstruiert. Der Wertebereich dieser Funktion ist { k/2n | n ∈ ℕ, k ≤ n } und damit dicht in [ 0, 1 ]. Wir setzen nun f nach [ 0, 1 ] fort vermöge
f (x) = supt < x, t ∈ J f (t) = inft > x, t ∈ J f (t) für alle x ∈ [ 0, 1 ] − J.
Die Menge [ 0, 1 ] − J ist die Cantor-Menge C ohne die Punkte 0 und 1 und ohne die Randpunkte der In.
Definition (Cantor-Funktion oder Teufelstreppe)
Die Funktion f : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ] heißt die Cantor-Funktion oder Teufelstreppe.
Aus der Konstruktion ergibt sich:
Satz (Eigenschaften der Cantor-Funktion)
(a) | f ist monoton steigend. |
(b) | f nimmt jeden Wert zwischen 0 und 1 an. |
(c) | f ist stetig. |
(d) | f ist in allen Punkten x ∈ [ 0, 1 ] − C differenzierbar mit Ableitung 0. |
(e) | f ist in 0, 1 und den Randpunkten der entfernten Drittelintervalle nicht differenzierbar. |
Die Menge [ 0, 1 ] − C hat die Riemann-Jordan-Länge 1 und dort verschwindet die Ableitung von f. Die Teufelstreppe ist also „fast überall“ flach, und dennoch steigt sie stetig von 0 nach 1. Als stetige Funktion auf [ 0, 1 ] ist die Cantor-Funktion sogar gleichmäßig stetig. Dagegen ist sie nicht Lipschitz-stetig und stärker auch nicht absolutstetig (vgl. Kapitel 3. 2 in Band 1).
Die Konstruktion der Cantor-Funktion lässt sich in verschiedenen Varianten durchführen. Interpoliert man die in den obigen Diagrammen dargestellten Graphen linear, so ergeben sich monotone und stückweise lineare Funktionen fn : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ], die gleichmäßig gegen f konvergieren. Damit erscheint f als gleichmäßiger Limes einer einfachen Funktionenfolge. Weiter lässt sich die Cantor-Funktion auch direkt mit Hilfe von 2- und 3-adischen Darstellungen definieren. Hierzu definieren wir für jede Folge (ak)k ≥ 1 in { 0, 1, 2 } eine Folge (bk)k ≥ 1 in { 0, 1 }, indem wir (1) alle ak-Glieder nach der ersten 1 gleich 0 setzen (gibt es keine 1, so tun wir nichts), (2) jede 2 durch eine 1 ersetzen. So wird aus (0, 2, 2, 0, 1, 1, 0, 2, …) zum Beispiel (0, 1, 1, 0, 1, 0, 0, 0, …). Dann gilt
f(∑k ≥ 1ak3k) = ∑k ≥ 1bk2k für alle Folgen (ak)k ≥ 1 in { 0, 1, 2 }.
Wir besprechen diese Darstellung ebenfalls in den Ergänzungen E4.