Das Vollständigkeitsaxiom

 Die Begriffe „obere Schranke, untere Schranke, Supremum, Infimum“ können nicht nur für , sondern für jede lineare Ordnung (M, <) formuliert werden. Insbesondere gilt dies für die rationalen Zahlen. So gilt etwa

[ 0, 1 ]  =  { q  ∈   | 0  ≤  q  ≤  1 }  ≤  2,  inf { 1/n | n ≥ 1 }  =  0  in .

Dagegen zeigt unsere Untersuchung zu den irrationalen Größen, dass beschränkte Mengen in  im Allgemeinen kein Supremum in  besitzen.

Beispiel

Die Menge X = { q  ∈   | q2 < 2 } ist beschränkt, besitzt aber kein Supremum in . Für jedes s  ∈   mit X ≤ s gibt es ein s′  ∈   mit X < s′ < s.

 Die entscheidende Eigenschaft der reellen Ordnung, die sie von der rationalen Ordnung unterscheidet, ist in der Tat die Existenz von Suprema und Infima:

(V) Jede nichtleere und beschränkte Teilmenge von  besitzt ein Infimum und ein Supremum. (Vollständigkeitsaxiom)

 Das Axiom besagt anschaulich, dass der Prozess des Vergrößerns bzw. Verkleinerns von Schranken s ≤ X bzw. s ≥ X stets bis zur Berührung der Menge X durchgeführt werden kann, es sei denn, X ist leer oder es existiert gar keine untere bzw. obere Schranke von X.

 Gilt (V) in einem angeordneten Körper (K, +, ·, <), so heißt der Körper vollständig angeordnet. Die Aussage (V) heißt auch das Vollständigkeitsaxiom. Die reellen Zahlen (, +, ·, <) bilden einen vollständig angeordneten Körper.

 Im Gegensatz zu den bisherigen Axiomen ist im Vollständigkeitsaxiom nicht von Körperelementen die Rede, sondern von Teilmengen des Körpers. Das Axiom ist damit verschieden von allen anderen. Der Leser, der die Dedekind-Peano-Axiome für  kennt, kann das Vollständigkeitsaxiom mit dem Induktionsaxiom vergleichen, das auch etwas für alle Teilmengen behauptet.

 Wir betrachten nun Folgerungen des Axioms. Im Ausblick werden wir sehen, dass wir mit (V) das Ziel der axiomatischen Beschreibung von  erreicht haben.