Die Existenz von Wurzeln

 Die wichtigsten Lücken, die in  im Vergleich zu  geschlossen sind, sind vielleicht die Wurzeln:

Satz (Existenz von Quadratwurzeln in den reellen Zahlen)

Sei x ≥ 0. Dann existiert ein eindeutiges w ≥ 0 mit w2 = x.

Beweis

Die Aussage ist klar für x = 0, sodass wir x > 0 annehmen. Wir setzen

I  =  { y ≥ 0 | 0 ≤ y2 ≤ x }.

Die Menge I ist nach oben beschränkt durch max(1, x). Weiter ist I ein Intervall, denn ist 0 ≤ y′ ≤ y und y2 ≤ x, so ist y′2 ≤ x. Sei k ≥ 1 derart, dass 1/k2 ≤ x. Dann ist 1/k  ∈  I, sodass [ 0, 1/k ] ⊆ I. Nach dem Vollständigkeitsaxiom existiert

w  =  sup(I).

Es gilt w ≥ 1/k > 0. Wir zeigen, dass w2 = x (sodass I = [ 0, w ]). Hierzu zeigen wir vorab:

(a)

inf ({ (w + 1/n)2) | n ≥ 1 })  =  w2,

(b)

sup({ (w − 1/n)2) | n ≥ 1, w ≥ 1/n })  =  w2.

Beweis von (a) und (b)

Für alle n ≥ 1 wie in (a) bzw. (b) gilt:

w2  ≤  (w + 1/n)2  =  w2 + 2w/n + 1/n2  ≤  w2 + (2w + 1)/n,

w2  ≥  (w − 1/n)2  =  w2 − 2w/n + 1/n2  ≥  w2 − 2w/n.

Hieraus (und der Archimedischen Anordnung) ergeben sich (a) und (b) durch die Bildung des Infimums bzw. Supremums der rechten Seiten.

Annahme w2 < x. Dann gibt es nach (a) ein n ≥ 1 mit (w + 1/n)2 < x, sodass

sup(I)  =  w  <  w + 1/n  ∈  I,  Widerspruch.

Analog ist w2 > x aufgrund von (b) nicht möglich. Damit gilt w2 = x.

Die Eindeutigkeit folgt aus der Monotonie der Quadrierung auf [ 0, ∞ [: Gilt 0 ≤ w1 < w2, so gilt w12 < w22.

 Die Eindeutigkeit können wir auch so einsehen:

Algebraischer Beweis der Eindeutigkeit

Sind w1, w2 reelle Zahlen mit w12 = x = w22, so gilt

(w1 + w2) (w1 − w2)  =  w12 − w22  =  0,

sodass w1 = − w2 oder w1 = w2. Hieraus folgt die Eindeutigkeit in [ 0, ∞ [.

 Aufgrund des Satzes können wir definieren:

Definition (reelle Quadratwurzel)

Sei x ≥ 0. Das eindeutige w ≥ 0 in  mit w2 = x heißt die (nichtnegative reelle) Quadratwurzel von x. Wir bezeichnen sie mit x oder sqrt(x).

 Die Bezeichnung sqrt steht für engl. „square root“ und ist vor allem in der Informatik gebräuchlich. Funktional notiert gilt

sqrt : [ 0, ∞ [    bzw.· : [ 0, ∞ [  .

 Für alle x, y ≥ 0 gilt sqrt(x y) = sqrt(x) sqrt(y). Ist x ≥ 0, so gilt sqrt(x)2 = x. Weiter gilt für alle x  ∈  :

x2  =  sqrt(x2)  =  |x|. (Formel vom nicht vergessenen Betrag)

Beispielsweise ist sqrt((− 3)2) = sqrt(9) = 3 = |− 3|.

 Sei y  ∈  . Dann hat die reelle Gleichung x2 = y in der Variablen x für y < 0 keine reelle Lösung, für y = 0 die eindeutige Lösung x1 = 0 und für y > 0 die Lösungen x1,2 = ± sqrt(y).

 Die Existenz von Wurzeln lässt sich elegant mit dem allgemeinen Kalkül für Suprema und Infima beweisen. Sind X, Y ⊆ [ 0, ∞ [ nichtleer und beschränkt und ist X Y = { x y | x  ∈  X, y  ∈  Y }, so gilt (vgl. die Übungen):

sup(X Y)  =  sup(X) sup(Y),(Produktregel für Suprema)

inf (X Y)  =  inf (X) inf (Y).(Produktregel für Infima)

Zweiter Beweis der Existenz von Quadratwurzeln

Sei x ≥ 0. Für die Intervalle I = { y ≥ 0 | y2 ≤ x } und J = { y ≥ 0 | x ≤ y2 } gilt I ∪ J = [ 0, ∞ [ und daher sup(I) = inf (J). Weiter gilt:

x ≤  inf { y2 | y  ∈  J }  =  inf { y1 y2 | y1, y2  ∈  J }
=  inf (J2)  =  inf (J)2  =  sup(I)2  =  sup(I2)
=  sup { y1 y2 | y1, y2  ∈  I }  =  sup { y2 | y  ∈  I }  ≤  x.

Damit gilt x = w2 mit w = sup(I) = inf (J).

 Wir diskutieren noch eine weitere Variante, die auf folgendem für sich interessanten Satz beruht:

Satz (Dichtheit rationaler Quadrate, rationale Wurzelapproximation)

In  gilt:

(+)  { q2 | q  ∈   } ist dicht in +0 = { q  ∈   | q ≥ 0 }.

Genauer gilt: Seien s, δ  ∈   mit 0 < δ < s. Weiter n die kleinste natürliche Zahl mit der Eigenschaft

n2  ≤  s (s + 2)2δ2  <  (n + 1)2.

Schließlich sei q = (n δ)/(s + 2). Dann gilt q2  ∈  ] s − δ, s ].

Beweis

Nach Definition von n gilt q2 = n2 δ2/(s + 2)2 ≤ s. Aus q2 ≤ s folgt

4 q2  ≤  4 s  ≤  4 s + (s − 1)2  =  (s + 1)2,

sodass 2q ≤ s + 1. Damit erhalten wir

(2n + 1) δ  =  2n δ + δ  =  2q (s + 2) + δ  ≤  (s + 1) (s + 2) + s  ≤  (s + 2)2.

Nach Definition von n und q gilt also

s  −  q2  <  (n + 1)2 δ2(s + 2)2 − n2 δ2(s + 2)2  =  (2n + 1) δ(s + 2)2 δ  ≤  δ,

sodass q2 > s − δ. Insgesamt ist also q2  ∈  ] s − δ, s ].

 Damit erhalten wir nun leicht:

Dritter Beweis der Existenz von Quadratwurzeln

Sei x  ∈   mit x ≥ 0, und sei w = sup(I) = inf (J) mit den reellen Intervallen I und J wie oben. Dann gilt (mit (+) aus obigem Satz):

x  =(+)  sup { y2 | y ≥ 0,  y2 ≤ x }  ≤  w2  ≤  inf { y2 | y ≥ 0,  x ≤ y2 }  =(+)  x.

(Da y ≤ w für alle y  ∈  I gilt, ist w2 eine obere Schranke aller y2 mit y  ∈  I; analoges gilt für die zweite Ungleichung.) Dies zeigt, dass w2 = x.

 Sind Quadratwurzeln bekannt, so ist (+) leicht zu zeigen: Eine rationale Zahl q mit sqrt(r) < q ≤ sqrt(s), r = s − δ, ist wie gewünscht (und existiert, da  dicht in  ist). Weiter ist jede hinreichend gute rationale Approximation an sqrt((r + s)/2) geeignet. Unser Beweis von (+) erlaubt es, q konkret anzugeben. Insbesondere kann der Satz verwendet werden, irrationale Zahlen wie sqrt(2) beliebig genau durch rationale Zahlen zu approximieren.

Beispiele

(1)

Für s = 18 und δ = 1 gilt s (s + 2)22 = 18 · 202 = 7200. Wir erhalten:

n  =  84  (mit 842 = 7056 ≤ 7200 < 7225 = 852)

q  =  8420  =  215  =  4,2;  q2  =  44125  =  17,64.

(2)

Für s = p2 gilt n2 = p2 (p + 2)22 und weiter q2 = (n δ)2/(p2 + 2)2 = p2. Ist also die rechte Intervallgrenze eine rationale Quadratzahl p2, so wird p durch unsere Berechnung reproduziert.

(3)

Für s = 2 und δ = 1/10 erhalten wir:

n  =  56,  q  =  75  =  1,4;  q2  =  4925  =  1,96

(4)

Für s = 2 und δ = 1/106 erhalten wir:

n  =  5656854,  q  =  28284272 · 106  =  1,4142135

q2  =  79999992943294 · 1012  =  1,99999982358225

 Die Zahl n ergibt sich durch ganzzahliges Abrunden von s (s + 2)/δ, falls die Wurzelfunktion bereits berechnet werden kann. Ohne Wurzelfunktion lässt sich n effektiv durch eine Intervallschachtelung in den natürlichen Zahlen bestimmen. Eine weitere Methode zur rationalen Approximation von Wurzeln werden wir im Heron-Verfahren kennenlernen (vgl. 2.1, 4.5 und E11).

 Allgemein lässt sich mit Suprema und Infima zeigen:

Satz (Existenz von n-ten Wurzeln in den reellen Zahlen)

Seien x ≥ 0 und n ≥ 1. Dann gibt es genau ein w ≥ 0 mit wn = x. Weiter gilt

w  =  sup { y ≥ 0 | yn ≤ x }  =  inf { y ≥ 0 | x ≤ yn }.

 Wir bezeichnen die reelle Zahl w wie im Satz mit rootn(x) oder nx.

 Wir geben später einen weiteren (und sehr einfachen) Beweis dieses Ergebnisses mit Hilfe der Limesregeln für konvergente Folgen.