Zum Fundamentalsatz der Algebra

 Nachdem wir mit algebraischen Gleichungen in  vertraut geworden sind, wollen wir noch eine „visuelle Beweisskizze“ des Fundamentalsatzes unter Verwendung der geometrischen Multiplikationsregel vorstellen. Wir betrachten den Satz in der folgenden äquivalenten Fassung:

Satz (Fundamentalsatz der Algebra, II)

Jedes normierte Polynom P :    vom Grad k ≥ 1,

P(z)  =  zk  +  …  +  a1z  +  a0  für alle z  ∈  ,

hat eine Nullstelle.

 Sei P :    wie im Satz. Dann gilt (wie für jede komplexe Funktion):

(+)  { z  ∈   | P(z)  =  0 }  =  { z  ∈   | Re(P(z))  =  Im(P(z))  =  0 }.

Wir müssen zeigen, dass eine komplexe Zahl z existiert, für die sowohl der Real- als auch der Imaginärteil von P(z) verschwindet. Wir suchen also eine gemeinsame Nullstelle der reellwertigen Funktionen Re(P(z)) und Im(P(z)) auf , d.h. der Funktionen Re(P(·)), Im(P(·)) :   . Hierzu betrachten wir die Mengen

Ak  =  { z  ∈   | Re(zk)  =  0 },  Bk  =  { z  ∈   | Im(zk)  =  0 }.

Nach der geometrischen Multiplikationsregel bestehen Ak und Bk genau aus denjenigen Punkten der Ebene, die durch Ver-k-Fachung ihres Winkels auf der y- bzw. x-Achse landen. Damit haben Ak und Bk eine aus 2k Halbgeraden durch 0 gebildete sternförmige Gestalt:

analysis1-AbbID28a

k  =  3

analysis1-AbbID28b

k  =  5

 Da nun P(z) für komplexe Zahlen z mit großem Betrag ungefähr gleich zk ist, haben auch die Mengen

AP  =  { z  ∈   | Re(P(z))  =  0 },  BP  =  { z  ∈   | Im(P(z))  =  0 }

außerhalb eines Kreises K = { z  ∈   | |z| = r } mit hinreichend großem Radius r die sternförmige Gestalt von Ak und Bk. Die Mengen AP ∩ K und BP ∩ K bestehen dann jeweils aus genau 2k Punkten, die im Inneren von K durch AP bzw. BP paarweise verbunden werden. Da die Punkte der beiden Mengen auf K alternieren, schneiden sich diese Verbindungen im Inneren von K. Die Schnittpunkte sind nach (+) aber genau die Nullstellen von P!

 Die folgenden Diagramme visualisieren die Mengen AP (durchgezogen) und BP (gestrichelt) und die durch „paarweise Verbindung in K“ entstehenden Schnittpunkte (die Nullstellen von P).

analysis1-AbbID29a

P(z)  =  z3  −  1

analysis1-AbbID29b

P(z)  =  z3  +  z2  +  z  +  1

analysis1-AbbID29c

P(z)  =  z3 + (2 − i) z2 − (1 + i) z + (1  − i)

analysis1-AbbID29d

P(z)  =  (z − 1 − 2i)3 (z + 1 + i)

analysis1-AbbID30a

P(z)  =  z5  −  i

analysis1-AbbID30b

P(z)  =  1 ≤ j ≤ 5 (z − wj)

w1, …, 5  =  i,  −i,  −3i,  2 + 2i,  5 + 4i

 Die Verwendung der geometrischen Multiplikationsregel ist eine leicht zu schließende Lücke der Argumentation (vgl. die Ergänzungen E3 und Kapitel 3. 5). Eine ernsthafte Lücke ist dagegen der fehlende strenge Beweis für die Existenz eines gemeinsamen Punktes von AP und BP im Inneren von K. Wir haben diese Existenz durch „paarweises Verbinden“ anschaulich begründet und diese Anschauung durch Diagramme untermauert. Die Argumentation lässt sich mit einem entsprechenden Begriffsapparat in einen lückenlosen Beweis überführen. Sie entspricht im Wesentlichen dem ersten (noch nicht ganz strengen) Beweis des Fundamentalsatzes von Gauß aus dem Jahre 1799. Felix Klein hat sie in seinen Vorlesungen zur „Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus“ in dieser Form präsentiert, wobei er die trigonometrischen Funktionen heranzieht.