Ausblick:  Lösungsformeln für Gleichungen höheren Grades

 Bereits im 16. Jahrhundert wurden von Nicolo Tartaglia, Scipione del Ferro und Gerolamo Cardano Lösungsformeln für Gleichungen dritten und vierten Grades angegeben. Wir möchten die Formel für die sog. kubischen Gleichungen vom Grad 3 hier noch vorstellen und herleiten. Anschließend gehen wir auf die Frage nach Lösungsformeln für Gleichungen fünften und höheren Grades ein.

 Wir betrachten eine ohne Einschränkung normierte kubische Gleichung

(+)  z3  +  b z2  +  c z  +  d  =  0

über . Entscheidend ist wieder die Reduktion auf eine einfachere Gleichung. Setzen wir t = z + b/3, so wird (+) zu

(t − b/3)3  +  b (t − b/3)2  +  c (t − b/3)  +  d  =  0.

Ausmultiplizieren liefert

(++)  t3  −  b2 − 3c3 t  +  2b3 − 9bc + 27d27  =  0.

analysis1-AbbID31

w = − b/3 ist die Wendestelle des Polynoms

f dritten Grades mit f (x) = x3 + bx2 + cx + d.

Hier ist die zweite Potenz verschwunden. Lösungen von (+) und (++) lassen sich vermöge „t = z + b/3“ ineinander umrechnen. Folglich genügt es, Gleichungen dritten Grades der reduzierten Form zu lösen, wobei wir wieder z statt t als Variable verwenden:

(+++)  z3  +  3p z  +  2q  =  0.

(Die Faktoren 3 und 2 sind so gewählt, dass die folgende Lösungsformel möglichst übersichtlich wird.) Nun setzen wir:

s  =  (−q  +  p3+q2)1/3,  ζ  =  1+i32, 

wobei wir eine komplexe Quadratwurzel r von p3 + q2 wählen und s als irgendeine komplexe dritte Wurzel von r − q festlegen (s kann für komplexe r − q mit der geometrischen Multiplikationsregel gefunden werden); im Fall p = 0 wählen wir r = −q, sodass immer s ≠ 0 gilt. Der Leser erinnere sich, dass ζ eine dritte Einheitswurzel ist, sodass ζ3 = ζ3 = 1. Nun können wir die komplexen Lösungen w1, w2 und w3 der Gleichung (+++) übersichtlich angeben:

Lösungsformel für reduzierte kubische Gleichungen, I

w1  =  s  −  ps,  w2  =  ζ s  −  pζ s,  w3  =  ζ s  −  pζ¯s.

 Wir zeigen nun, wie man diese Lösungsformel herleiten kann.

Herleitung der Lösungsformel

Wir setzen z = u + v in (+++) und erhalten so

(u + v)3  +  3p(u + v)  +  2q  =  0

oder gleichwertig

u3  +  v3  +  3uv(u + v)  +  3p(u + v)  +  2q  =  0.

Diese Gleichung wird durch u und v gelöst, wenn

u3 + v3 = −2q  und  u v = −p,

also u3 v3 = −p3. Gilt dies, so sind u3 und v3 wegen

(y − u3)(y − v3)  =  y2 − (u3 + v3) y  +  u3 v3  =  y2  +  2qy  −  p3

die Lösungen der quadratischen Gleichung

y2  +  2qy  −  p3  =  0

in der Unbestimmten y, die sich nach der quadratischen Lösungsformel zu

y1/2  =  −q  ±  p3+q2

bestimmen. Damit haben wir

(1)  u3  =  −q  +  p3+q2,  (2)  v3  =  −q  −  p3+q2.

Die Gleichung (1) hat, mit s und ζ wie oben, die drei Lösungen

u1  =  s,  u2  =  ζ s,  u3  =  ζ s. 

Mit u v = − p entsprechen diese Lösungen den drei Lösungen

v1  =  − p/s,  v2  =  − pζs,  v3  =  − pζ¯s

von (2). Mit z = u + v sind damit die drei Lösungen der Formel gefunden:

w1  =  u1  +  v1,  w2  =  u2  +  v2,  w3  =  u3  +  v3.

Lösungsformel für reduzierte kubische Gleichungen, II

Wählt man die dritte Wurzel t = (−q − p3+q2)1/3 so, dass

s t = −p, so kann man mit ζ−1 = ζ die Lösungen schreiben als

w1  =  s  +  t,  w2  =  ζ s  +  ζ t,  w3  =  ζ s  +  ζ t.

Warnung

Bei beliebiger Wahl von t kann st = −ζ p oder st = −ζ p gelten, was zu falschen Lösungen führen kann.

 Wir betrachten einige Beispiele.

Beispiele

(1)

Die Gleichung z3 − 1 = 0 hat mit p = 0, q = −1/2, s = 1 die Lösungen

w1  =  1,  w2  =  ζ,  w3  =  ζ,

also genau die oben bestimmten dritten Einheitswurzeln.

(2)

Die Gleichung z3 + 6z + 2 = 0 hat mit

p  =  2,  q  =  1,  r  =  3,  s  =  32,  t  =  − 34

die Lösungen

w1  =  32 − 34,  w2  =  32 ζ  −  34 ζ,  w3  =  32 ζ  −  34 ζ.

analysis1-AbbID32a

f (z)  =  z3  +  6z  +  2

analysis1-AbbID32b

f (x)  =  x3  +  6x  +  2

Gleichungen vierten und fünften Grades

 Eine kubische Gleichung kann also durch trickreiche algebraische Vereinfachungen und Umformungen gelöst werden. In ähnlicher Weise können auch Gleichungen vierten Grades gelöst werden, und eine entsprechende Lösungsformel wurde ebenfalls im 16. Jahrhundert gefunden. Der Lösungsweg wurde komplizierter, aber man durfte vermuten, dass man auch Gleichungen fünften und höheren Grades wird lösen können und dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis jemand diesen Gleichungen mit Hilfe von Wurzeln den Zahn ziehen würde…

 Die Suche nach einer Lösungsformel für Gleichungen fünften Grades blieb jedoch erfolglos. Und sie musste erfolglos bleiben. Nils Henrik Abel bewies 1824, dass es für Gleichungen fünften und höheren Grades keine allgemeine Lösungsformel geben kann, die neben den Grundrechenarten nur Wurzeln verwendet. Évariste Galois konnte um 1830 dieses Ergebnis mit neuen gruppentheoretischen Methoden beleuchten. Mit Galois’ Methoden konnte Pierre Wantzel 1837 zwei der drei klassischen Probleme der Mathematik negativ beantworten: Man kann einen Winkel mit Zirkel und Lineal nicht dritteln (Problem der Winkeltrisektion), und man kann einen Würfel mit Zirkel und Lineal nicht verdoppeln (Delisches Problem). (Das dritte Problem der Quadratur des Kreises konnte Ferdinand von Lindemann erst 1882 durch seinen Nachweis der Transzendenz von π mit ganz anderen Methoden lösen.) Heute werden die Erkenntnisse von Abel, Galois und Wantzel in der Galois-Theorie der Algebra behandelt. Sie liefert konkrete Beispiele für Gleichungen fünften Grades, die sich nicht durch Wurzelziehen lösen lassen. Zu diesen Gleichungen gehören zum Beispiel

z5  −  6 z  +  3  und  z5  −  15 z  +  5.

 Die Ergebnisse sind ein schönes Beispiel für eine Besonderheit der Mathematik: In der Mathematik kann man nicht nur Probleme lösen, sondern oft auch zeigen, dass gewisse Probleme innerhalb eines bestimmten Rahmens nicht lösbar sind.

analysis1-AbbID33

f hat drei reelle Nullstellen. Diese Nullstellen

sind algebraisch, aber keine Wurzelausdrücke.