Der Grenzwertbegriff

 In der Schule wird der Grenzwertbegriff anschaulich behandelt, und Studienanfänger kennen Ausdrücke wie

lim ∞1n2  =  0,  lim ∞2nn + 1  =  2.

Dagegen ist eine exakte Definition des Grenzwerts für Folgen in der Schule oft nicht mehr üblich. Die hierfür verwendete Quantorensprache ist für Anfänger ungewohnt und es können Verständnisschwierigkeiten entstehen. Wir möchten deswegen die Definition ausführlich vorbereiten, indem wir vorab Grenzwerte für zwei wichtige spezielle Typen von Folgen betrachten. Dabei sei betont, dass der allgemeine Begriff nicht auf den beiden Spezialfällen aufbaut. Sie sind dem Verständnis dienende, prinzipiell aber verzichtbare Vorbereitungen.

Vorbereitung 1:  Monotone Folgen und ihre Grenzwerte

Definition (monoton steigend, monoton fallend, monoton, beschränkt)

Eine Folge (xn)n  ∈   in  heißt

(a)

monoton steigend (fallend), falls xn + 1 ≥ xn (xn + 1 ≤ xn) für alle n,

(b)

streng monoton steigend (fallend), falls xn + 1 > xn (xn + 1 < xn) für alle n,

(c)

monoton, falls die Folge monoton steigend oder monoton fallend ist,

(d)

beschränkt (nach oben, nach unten), falls { xn | n  ∈   } beschränkt (nach oben, nach unten) ist.

 Die streng monoton fallende und beschränkte Folge

(1, 1/2, 1/3, 1/4, …)  =  (1/(n + 1))n  ∈  

„nähert“ sich der 0 von oben an oder „strebt“ von oben gegen 0. Es gilt

0  =  inf { 1, 1/2, 1/3, 1/4, … }.

Ebenso nähert sich die streng monoton steigende Folge

(0, 1/2, 2/3, 3/4, …)  =  (1 − 1/(n + 1))n  ∈  

der Zahl 1 von unten an. Es gilt

1  =  sup { 0, 1/2, 2/3, 3/4, … }.

Dagegen streben die unbeschränkten monotonen Folgen (0, 1, 2, 3, 4, …) und (0, −1, − 2, −3, −4, …) gegen keinen Wert in .

 Diese Überlegungen motivieren die folgende Grenzwertdefinition für monotone Folgen:

Definition (Grenzwert für monotone und beschränkte Folgen)

Sei (xn)n  ∈   eine monotone Folge in  mit

(+)  (xn)n ∈  ist beschränkt. (Konvergenzbedingung für monotone Folgen)

Dann setzen wir:

limnxn=sup{xn|n}falls (xn)nmonotonsteigt,inf{xn|n}falls (xn)nmonotonfällt.

Die Zahl x = lim ∞ xn heißt der Grenzwert oder Limes von (xn)n ∈ . Wir sagen auch, dass die Folge (xn)n ∈  gegen x konvergiert.

analysis1-AbbID35

x  =  lim ∞ xn für eine monoton steigende beschränkte Folge (xn)n ∈ 

 Zur Vereinfachung vereinbaren wir noch:

Notationen

(a)

Für eine Folge (xn)n ∈  in  setzen wir im Fall der Existenz

supn xn  =  supn { xn | n  ∈   },  infn xn  =  inf { xn | n  ∈   }.

Allgemeiner schreiben wir supi  ∈  I xi statt sup { xi | i  ∈  I } usw.

(b)

Wir schreiben kurz limn xn für lim ∞ xn. Weiter verwenden wir Varianten wie limn ≥ 1 xn.

Damit gilt also für eine monotone beschränkte Folge (xn)n  ∈  :

limn xn  =  supn xn,  falls (xn)n  ∈   monoton steigt,
limn xn  =  infn xn,  falls (xn)n  ∈   monoton fällt.
Beispiele

(1)

limn 1/2n  =  0,  limn ≥ 1 1/n  =  0,  limn ≥ 1 1 − 1/n  =  1.

(2)

limn n und limn −2n existieren nicht in ,

(3)

Nichtnegative Dezimaldarstellungen sind definiert durch (vgl. E2):

n, a1 a2 …  =  supk ≥ 1 n, a1 … ak,

mit n  ∈   und Nachkommastellen ak  ∈  { 0, …, 9 } für alle k ≥ 1. Nun können wir schreiben:

n, a1 a2 …  =  limk n, a1 … ak.

Weiter gilt, mit einem monoton fallenden Limes, dass

− n, a1 a2 …  =  limk (− n, a1 … ak).

Vorbereitung 2:  Pendelfolgen und ihre Grenzwerte

 Der monotone Grenzwertbegriff ist zu eng, da zum Beispiel die Folge

1,  − 12,  13,  − 14,  15,  − 16,  17,  …,

die anschaulich gegen 0 pendelt, unberücksichtigt bleibt. Wir wollen unseren Grenzwertbegriff nun erweitern, damit er auch derartige Folgen erfasst.

Definition (Pendelfolgen)

Eine Folge (xn)n ∈  in  heißt eine Pendelfolge, falls für alle n  ∈   gilt:

xn + 2 liegt zwischen xn und xn + 1 bzgl. ≤.

Gilt x0 ≤ x1 (x1 ≤ x0), so heißt die Folge linksstartend (rechtsstartend).

Pendelfolgen haben also eine der beiden folgenden Formen:

x0  ≤  x2  ≤  …  ≤  x2n  ≤  …  ≤  x2n + 1  ≤  …  ≤  x3  ≤  x1,(Linksstart)

x1  ≤  x3  ≤  …  ≤  x2n + 1  ≤  …  ≤  x2n  ≤  …  ≤  x2  ≤  x0. (Rechtsstart)

 Anschaulich konvergiert eine Pendelfolge, wenn ihr monoton steigender und ihr monoton fallender Anteil gegen denselben Wert streben. Dies ist genau dann der Fall, wenn der Abstand |xn − xn + 1| zweier aufeinanderfolgender Glieder xn und xn + 1 mit wachsendem n beliebig klein wird. Wir definieren also:

Definition (Grenzwert für Pendelfolgen)

Sei (xn)n ∈  eine Pendelfolge mit

infn (|xn + 1 − xn|)  =  0. (Konvergenzbedingung für Pendelfolgen)

Dann setzen wir

limnxn=supnx2nfalls (xn)nlinksstartend,supnx2n+1falls (xn)nrechtsstartend.

Die Zahl x = limn xn heißt dann der Grenzwert oder Limes der Folge, und wir sagen auch wieder, dass die Folge (xn)n ∈  gegen x konvergiert.

analysis1-AbbID36

x  =  lim ∞ xn für eine rechtsstartende Pendelfolge (xn)n ∈ 

 Für eine Pendelfolge (xn)n ∈  ist (|xn + 1 − xn|)n  ∈   monoton fallend und nach unten beschränkt durch 0, sodass das Infimum in der Definition stets existiert. Weiter gilt infn |xn + 1 − xn| = limn |xn + 1 − xn| = limn |x2n + 1 − x2n|.

Beispiele

(1)

(xn)n ∈  = ((−1)n/2n))n  ∈   ist eine Pendelfolge, die gegen 0 konvergiert.

(2)

(xn)n ∈  = ((−1)n)n  ∈   ist eine Pendelfolge, die die Konvergenzbedingung nicht erfüllt, da (|xn + 1 − xn|)n  ∈   = (2, 2, 2, …). Ebenso verletzt (xn)n ∈  = ((−1)n(1 + 1/n))n  ∈   die Konvergenzbedingung.

(3)

Die Leibniz-Reihe ist die Folge

1,  1 − 1/3,  1 − 1/3 + 1/5,  1 − 1/3 + 1/5 − 1/7,  …

Sie ist eine Pendelfolge und erfüllt die Konvergenzbedingung. Wir werden in Abschnitt 4 zeigen, dass sie gegen π/4 konvergiert.

 Der Leser möge beweisen:

Satz (Äquivalente Formulierungen der Konvergenzbedingung)

Sei (xn)n ∈  eine linksstartende Pendelfolge. Dann sind äquivalent:

(a)

(xn)n ∈  konvergiert.

(b)

supn x2n  =  infn x2n + 1.

(c)

∀ε > 0 ∃n x2n + 1 − x2n < ε.

Analoge Äquivalenzen gelten für rechtsstartende Pendelfolgen.