Die harmonische Reihe

 Ist n xn eine Reihe und ε > 0 derart, dass |xn| > ε für unendlich viele n gilt, so divergiert die Reihe, da die Partialsummen der Reihe keine Cauchy-Folge bilden. Ein notwendiges Kriterium für die Konvergenz von n xn ist also, dass die Summanden eine Nullfolge bilden:

Definition (Nullfolge)

Eine Folge (xn)n ∈  heißt Nullfolge, falls limn xn = 0.

 Es stellt sich die Frage, ob dieses Kriterium auch hinreichend ist. In der Tat sind ja n ≥ 1 1/(n (n + 1)) und n xn für |x| < 1 konvergente Reihen mit gegen Null strebenden Summanden. In diesen Reihen konvergieren aber die Summanden quadratisch oder sogar exponentiell schnell gegen Null. Langsamer abfallende Summanden tauchen in der folgenden Reihe auf, die zu den wichtigsten Reihen der Analysis gehört:

analysis1-AbbID57

Der entstehende Turm ist gerade noch stabil und hat bei n Bausteinen die Ausladung sn.

Definition (harmonische Reihe)

Die harmonische Reihe ist die Reihe n ≥ 1 1/n.

Anders notiert gilt

n ≥ 1 1n  =  1 + 12 + 13 + …

 Da die Summanden positiv sind, ist die Frage der Konvergenz der harmonischen Reihe gleichbedeutend zur Beschränktheit ihrer Partialsummen sn. Diese Partialsummen wachsen sehr langsam. Eine Computerberechnung zeigt, dass die Partialsumme s10000 immer noch kleiner als 10 ist. Eine bestechend schöne Anwendung des Assoziativgesetzes zeigt:

Satz (Divergenz der harmonischen Reihe)

Es gilt n ≥ 1 1/n  =  ∞.

Beweis

Sei m  ∈  . Dann gilt für alle n ≥ 2m:

sn =  1 ≤ k ≤ n 1k  ≥  1 ≤ k ≤ 2m 1k
=  1  +  12  +  (13  +  14)
  +  (15  +  16  +  17  +  18)  +  …
  +  (12m − 1 + 1  +  …  +  12m)
≥  1  +  12  +  24  +  48  +  …  +  2m − 12m
=  1  +  m2.

Damit gilt limn sn = ∞.

 Die Divergenz der harmonischen Reihe war bereits im 14. Jahrhundert in der Scholastik bekannt und findet sich insbesondere bei Nikolaus von Oresme. Um 1650 wurde die Divergenz von Pietro Mengoli erneut bewiesen und popularisiert.

 Wir halten also fest, dass positive Summanden eine unendliche Summe besitzen können, obwohl sie gegen Null konvergieren. Ist man lediglich an einem Beispiel hierfür interessiert, so ist

1  +  1/2  +  1/2  +  1/4  +  1/4  +  1/4  +  1/4  +  …

noch etwas einfacher als die harmonische Reihe.

 Auch viele Ausdünnungen der harmonischen Reihe divergieren. So gilt etwa

n ≥ 1 1/(2 n)  =  ∞,  n ≥ 1 1/(2 n + 1)  =  ∞.

Mit Methoden der analytischen Zahlentheorie kann man sogar zeigen, dass die Ausdünnung

p prim 1/p  =  1/2  +  1/3  +  1/5  +  1/7  +  1/11  +  1/13  +  …

der harmonischen Reihe, in der die Nenner alle Primzahlen durchlaufen, immer noch divergiert, während die Ausdünnung

p prim und p + 2 prim 1/p  =  1/3  +  1/5  +  1/11  +  1/17  +  1/29  +  1/41  +  …,

in der nur noch Primzahlzwillinge berücksichtigt werden, endlich ist. Dabei ist noch offen, ob es überhaupt unendlich viele Primzahlzwillinge gibt. Gibt es nur endlich viele, so ist die Summe trivialerweise endlich.

 Auch spielerische Varianten bergen Überraschungen. Streichen wir zum Beispiel alle Summanden 1/n der Reihe, in deren Nenner in Dezimaldarstellung die Ziffer 9 vorkommt, so erhalten wir

1/1  +  1/2  +  …  +  1/8  +  1/10  +  …  +  1/18  +  1/20   +   …   +   …

  +  1/87  +  1/88  +  1/100  +  1/101  +  …

In den Übungen werden wir sehen, dass diese Summe endlich ist.

Wachstum der harmonischen Reihe

 Die Partialsummen sn der harmonischen Reihe sind de facto eng mit der Logarithmusfunktion log : ] 0, ∞ [   zur Basis e verwandt, die der Leser aus der Schule kennt und die wir im dritten Abschnitt diskutieren werden. Man kann zeigen, dass

γ  =  limn (sn  −  log(n))

existiert. Die reelle Zahl γ heißt die Euler-Mascheroni-Konstante. (Sie wird oft auch mit C bezeichnet.) Es gilt

γ  =  0,5772156649…

Es ist offen, ob γ irrational ist.

analysis1-AbbID58

Die harmonischen Zahlen

 Die harmonische Reihe ist so bedeutend, dass ihre Partialsummen einen eigenen Namen verdienen:

Definition (harmonische Zahlen)

Für alle n ≥ 1 heißt

hn  =  1 ≤ k ≤ n 1k

die n-te harmonische Zahl.

Beispiele

Die ersten zehn harmonischen Zahlen sind

1,  32,  116,  2512,,  13760,  4920,  363140,  761280,  71292520,  73812520.

Weiter gilt mit gerundeten Werten:

h2  =  1,5h4  =  2,08333h8  =  2,71786h16  =  3,38073
h25  =  4,0585h26  =  4,74389h27  =  5,43315h28  =  6,12434
h29  =  6,81652h210  =  7,50918h2100  =  69,8919h21000  =  693,724

 Die Folge (hn)n  ≥ 1 ist streng monoton steigend. Es gilt limn ≥ 1 hn = ∞ und limn ≥ 1 (hn + 1 − hn) = 0. Wir versammeln (Beweis als Übung):

Satz (elementare Eigenschaften der harmonischen Zahlen)

Für alle n ≥ 1 gilt:

(a)

hn + 1  =  hn  +  1/(n + 1),

(b)

hn + 1  =  n/H(1, …, n),  mit dem harmonischen Mittel

H(a1, …, an)  =  n/(1/a1 + … 1/an))  für  a1, …, an > 0,

(c)

1 + n/2  ≤  h2n  ≤  n + 1,(Block-Abschätzung)

(d)

1 ≤ k ≤ n hk  =  (n + 1) hn  −  n.

 Die zweite Eigenschaft motiviert die Namensgebung der harmonischen Reihe: Die Summen 1 + 1/2 … + 1/n tauchen im Nenner des allgemeinen harmonischen Mittels auf. Die Abschätzungen für h2n nach oben und unten ergeben sich aus der Blockbildung wie im Beweis der Divergenz der Reihe von Oresme (und der Summen-Formel 1 + 2 + 4 + … + 2n − 1 = 2n − 1).