Unendliche Umordnungen
Von besonderem Interesse ist das Kommutativgesetz im Unendlichen, dessen bislang ungeklärter Status uns im vorherigen Kapitel davon abgehalten hat, das Produkt zweier Reihen wie folgt zu definieren:
(∑n xn) (∑n yn) = ∑n, m xn ym.
Diese Definition wäre nur dann eindeutig, wenn das Ergebnis der Summation auf der rechten Seite nicht von der Reihenfolge abhängt, in der die Zahlenpaare (n, m) durchlaufen werden. In der Tat reagieren manche unendliche Summen empfindlich auf Umordnungen ihrer Summanden:
Beispiel
In der alternierenden harmonischen Reihe
∑n ≥ 1 (−1)n − 1n = 1 − 12 + 13 − 14 + …
können wir zuerst viele positive Glieder aufsummieren, dann 1/2 abziehen, dann wieder viele positive Glieder aufsummieren, dann 1/4 abziehen usw. Aufgrund der Divergenz der „halben“ harmonischen Reihen
1 + 13 + 15 + … und 12 + 14 + 16 + …
können wir so eine andere Summe oder auch Divergenz erzeugen. So gilt zum Beispiel, wie wir in den Übungen zeigen werden:
(a) | 1 − 12 − 14 + 13 − 16 − 18 + 15 − 110 − 112 + … = 12 ∑n ≥ 1 (−1)n − 1n, |
(b) | 1 − 12 + 13 + 15 − 14 + 17 + 19 + 111 + 113 − 16 + … = ∞. |
In (a) folgen stets zwei negative auf ein positives Glied, in (b) erscheint dagegen ein negatives Glied nach 1, 2, 4, 8, 16, … positiven Gliedern.
Alle Summanden der alternierenden harmonischen Reihe tauchen genau einmal auf, eines der beiden Vorzeichen wird aber bevorzugt behandelt und die Glieder mit dem anderen Vorzeichen werden verzögert in die Summation eingeflochten.
Wir definieren:
Definition (Umordnung einer Reihe)
Seien ∑n xn eine Reihe in ℝ und g : ℕ → ℕ bijektiv. Dann heißt ∑n xg(n) die durch g definierte Umordnung der Reihe ∑n xn.
Obige Umordnungen der alternierenden harmonischen Reihe verwenden die Divergenz der harmonischen Reihe, sodass durch eine Gruppierung von hinreichend vielen positiven oder negativen Summanden das Konvergenzverhalten verändert werden kann. Damit haben wir des Pudels Kern schon entdeckt, denn für absolut konvergente Reihen gilt der folgende grundlegende Satz:
Satz (Umordnungssatz für absolut konvergente Reihen)
Seien ∑n xn eine absolut konvergente Reihe in ℝ und g : ℕ → ℕ bijektiv. Dann konvergiert die Umordnung ∑n xg(n) absolut, und es gilt
∑n xg(n) = ∑n xn.
Beweis
Wir setzen
sn = ∑k ≤ n xk, tn = ∑k ≤ n xg(k) für alle n
und zeigen:
(+) limn | sn − tn | = 0.
Damit ist
∑n xg(n) = limn tn = limn sn = ∑n xn.
Die Konvergenz von ∑n |xg(n)| ergibt sich durch Anwendung des gleichen Arguments auf die Reihe ∑n |xn|. Zum Beweis von (+) sei ε > 0. Da die Reihe ∑n |xn| konvergiert, gibt es ein n0 mit
∑k > n0 |xk| < ε.
Da g surjektiv ist, gibt es ein n1 ≥ n0 mit { 0, …, n0 } ⊆ { g(0), …, g(n1) }. Sei nun n ≥ n1 beliebig. Dann gilt
D = { 0, …, n } Δ { g(0), …, g(n) } ⊆ { n | n > n0 }
(mit der symmetrischen Differenz A Δ B = (A − B) ∪ (B − A) zweier Mengen A und B). Aufgrund der Injektivität von g gilt:
|sn − tn| | = |∑k ≤ n (xk − xg(k))| ≤ ∑k ≤ n |xk − xg(k)| |
= ∑m ∈ D |xm| ≤ ∑k > n0 |xk| < ε. |
Der Beweis lässt sich als „Einholargument“ beschreiben: In der umgeordneten Reihe erscheinen irgendwann (ab n1) die ersten n0 Summanden. Mindestens diese Summenden heben sich in sn − tn gegenseitig auf.
Es gilt folgendes Gegenstück, das wir in den Übungen diskutieren:
Satz (Umordnungen bedingt konvergenter Reihen)
Sei ∑n xn eine bedingt konvergente Reihe in ℝ. Dann gibt es eine divergente Umordnung der Reihe. Weiter gibt es für jedes s ∈ ℝ = ℝ ∪ { −∞, ∞ } eine Umordnung der Reihe, die gegen s konvergiert.
Für konvergente Reihen ist also die absolute Konvergenz gleichbedeutend mit einem „unendlichen Kommutativgesetz“. Bei bedingter Konvergenz kann durch Umordnung dagegen jeder Wert in ℝ erreicht werden.
Mit Hilfe des Umordnungssatzes können wir unendliche Summen über abzählbare Familien definieren:
Definition (Summen über abzählbar unendliche Familien)
Sei I eine abzählbar unendliche Menge, und sei (xi)i ∈ I eine I-Folge in ℝ. Weiter sei g : ℕ → I bijektiv, und die Reihe ∑n xg(n) sei absolut konvergent. Dann setzen wir
∑i ∈ I xi = ∑n xg(n)
und nennen ∑i ∈ I xi konvergent und die reelle Zahl ∑n xg(n) die Summe der Familie (xi)i ∈ I oder den Wert der zugehörigen Reihe.
Der Umordnungssatz zeigt, dass der Wert von ∑i ∈ I xi nicht von der Wahl der Aufzählung g(0), g(1), …, g(n), … von I abhängt. Mit ∑i ∈ I xi konvergiert nach Definition immer auch ∑i ∈ I |xi|. Die Konvergenz von ∑n ∈ ℕ xn als ℕ-Reihe ist äquivalent zur absoluten Konvergenz von ∑n xn im bisherigen Sinn. Die Indexmenge I ist im Allgemeinen nicht mit einer Ordnung versehen.
Wir verwenden suggestive Varianten der Notation. So bedeutet zum Beispiel ∑n, m xn, m die Summe über eine Familie (xi)i ∈ ℕ2. Ein Ausdruck
s = ∑n, m xn, m bedeutet s = xg(0) + … + xg(n) + …,
wobei g(0), g(1), …, g(n), … beliebig-bijektiv alle Paare (n, m) ∈ ℕ2 durchläuft. Konkrete Aufzählungen von ℕ2 werden wir gleich betrachten.
Uneigentliche Konvergenz für abzählbare Familien
Für eine abzählbar unendliche Folge (xi)i ∈ I in ℝ schreiben wir
∑i ∈ I xi = ∞ bzw. ∑i ∈ I xi = −∞,
falls für jede Bijektion g : ℕ → I gilt, dass
∑n xg(n) = ∞ bzw. ∑n xg(n) = −∞.
Damit ist die Summe ∑i ∈ I xi ≤ ∞ stets definiert, wenn (xi)i ∈ I eine abzählbare Folge ist, deren negative Glieder eine endliche Summe haben, d. h. ∑i ∈ I, xi < 0 xi ist konvergent. Analoges gilt für −∞.
Supremum endlicher Teilsummen
Sei xi ≥ 0 für alle i ∈ I. Dann gilt:
∑i ∈ I xi = supE ⊆ I, E endlich ∑i ∈ E xi ≤ ∞.
Für I = ℕ und xn ≥ 0 gilt wie schon bisher
∑n ∈ ℕ xn = supn sn ≤ ∞,
da jede endliche Menge E natürlicher Zahlen in einem Anfangsstück der Form { 0, …, n } enthalten ist.