Ausblick: Die binomischen Reihen
Der Beweis des Additionstheorems der Exponentialfunktion wird durch ein Zusammenspiel des Cauchy-Produkts und des binomischen Lehrsatzes getragen. Wir geben nun noch ein weiteres Beispiel für dieses Zusammenspiel. Hierzu verallgemeinern wir die Binomialkoeffizienten
= bin(n, k) = n!k! (n − k)! = n · (n − 1) · … (n − k + 1)1 · 2 · … · k.
Der zweite Bruch auf der rechten Seite besitzt genau k Faktoren im Zähler und im Nenner. Im Nenner wird von 1 heraufgezählt, während im Zähler von n herabgezählt wird. Dieses Herabzählen kann mit einer beliebigen reellen Zahl beginnen. Wir definieren:
Definition (fallende Potenz, allgemeine Binomialkoeffizienten)
Seien s ∈ ℝ und k ∈ ℕ. Dann setzen wir:
s[ k ] = ∏j < k (s − j) = s · (s − 1) · … · (s − k + 1), (fallende Potenz)
= bin(s, k) = s[ k ]k!. (Binomialkoeffizient s über k)
Es gilt
= 1 für alle s, = 0 für alle s ∈ ℕ und k > s,
denn für k = 0 ist das Produkt s[ k ] leer und für natürliche Zahlen s mit s < k ist einer der Faktoren der fallenden Potenz s[ k ] gleich 0.
Die Funktion f : ℝ → ℝ mit f (s) = bin(s, 8) ist ein Polynom vom Grad 8 mit den Nullstellen 0, …, 7.
Für die Binomialkoeffzienten gilt das folgende Additionstheorem:
Satz (Additionstheorem für Binomialkoeffizienten)
Für alle s, t ∈ ℝ und alle n ∈ ℕ gilt:
∑k ≤ n = .
Das Additionstheorem lässt sich in die Form des binomischen Lehrsatzes
(s + t)n = ∑k ≤ n sk tn − k
bringen, wenn wir die Binomialkoeffizienten in der Form s[ k ]/k! schreiben. Die Aussage des Additionstheorems lautet dann
∑k ≤ n s[ k ]k! · t[ n − k ](n − k)! = (s + t)[ n ]n!.
Multiplikation mit n! liefert
∑k ≤ n s[ k ] t[ n − k ] = (s + t)[ n ].
Der Beweis kann nun wie für den binomischen Lehrsatz durch Induktion nach n geführt werden.
Mit den verallgemeinerten Binomialkoeffizienten definieren wir nun:
Definition (Binomische Reihe oder Binomialreihe)
Sei s ∈ ℝ. Dann heißt für alle x ∈ ℝ die Reihe
Bs(x) = ∑n xn
die (reelle) binomische Reihe oder Binomialreihe zum Exponenten s im Punkt x.
Zur Begründung der Wahl des Wortes „Exponent“ betrachten wir die binomischen Reihen für die natürlichen Zahlen s = 1, 2, 3, … Es gilt = 0 für alle n > s. Damit gilt nach dem binomischen Lehrsatz
Bs(x) = ∑n ≤ s xn = ∑n ≤ s xn 1s − n = (x + 1)s für alle x ∈ ℝ, s ∈ ℕ.
Speziell erhalten wir:
B0(x) = ∑n xn = x0 = 1 = (1 + x)0,
B−1(x) = ∑n xn = ∑n (−1)[ n ]n! xn = ∑n (−1)n n!n! xn = ∑n (−x)n.
Damit ist also die binomische Reihe für den Exponenten − 1 und den Punkt x nichts anderes als die geometrische Reihe für −x. Folglich ist
B−1(x) = 11 + x für alle x ∈ ] −1, 1 [.
Die Darstellung Bs(x) = (1 + x)s gilt, wie wir gleich sehen werden, allgemeiner. Das Quotientenkriterium liefert:
Satz (Konvergenz der binomischen Reihen)
Sei s ∈ ℝ. Dann konvergiert die binomische Reihe Bs(x) absolut für alle x ∈ ℝ mit |x| < 1.
Entscheidend für die weitere Untersuchung ist:
Satz (Additionstheorem für die binomischen Reihen)
Seien s, t ∈ ℝ. Dann gilt für alle x ∈ ] −1, 1 [:
Bs(x) · Bt(x) = Bs + t(x).
Beweis
Sei x ∈ ] −1, 1 [. Aufgrund der absoluten Konvergenz der Reihen Bs(x) und Bt(x) gilt nach dem Satz über das Cauchy-Produkt
Bs(x) · Bt(x) = ∑n dn xn, wobei
dn = ∑k ≤ n für alle n.
Nach dem Additionstheorem für Binomialkoeffizienten gilt also
dn = für alle n, sodass
Bs(x) · Bt(x) = ∑n xn = Bs + t(x).
Aus dem Additionstheorem folgt wie für die Exponentialfunktion:
Korollar (elementare Eigenschaften der binomischen Reihen)
Für alle s ∈ ℝ und x ∈ ] −1, 1 [ gilt:
(a) | Bs(0) = 1, B0(x) = 1, |
(b) | Bs(x) ≠ 0 und B− s(x) = 1/Bs(x), |
(c) | Bn/2(x) · Bn/2(x) = Bn(x) für alle n ∈ ℤ, und allgemeiner (Bn/m(x))m = Bn(x) für alle n ∈ ℤ, m ∈ ℕ*. |
Nach Eigenschaft (c) gilt
Bn/2(x) = = | für alle n ≥ 1, x ∈ ] −1, 1 [, |
Bn/m(x) = m = (1 + x)n/m | für alle n ∈ ℤ, m ∈ ℕ*, x ∈ ] −1, 1 [. |
f : [ −1, ∞ [ → ℝ, f (x) = und fn = ∑k ≤ n xk für einige n
Mit Hilfe der Exponentialfunktion werden wir später (1 + x)s für alle s ∈ ℝ einführen und zeigen, dass Bs(x) = (1 + x)s für alle s ∈ ℝ und x ∈ ] −1, 1 [.
Komplexe binomische Reihen
Die binomischen Reihen lassen sich auch für komplexe Exponenten und Argumente einführen. Hierzu erweitern wir die fallenden Potenzen und die Binomialkoeffizienten auf die komplexen Zahlen. Wir setzen also
s[ k ] = ∏j < k (s − j),
= bin(s, k) = s[ k ]k! für alle s ∈ ℂ und alle k ∈ ℕ.
Für alle s, z ∈ ℂ heißt
Bs(z) = ∑n zn
die (komplexe) binomische Reihe oder Binomialreihe zum Exponenten s im Punkt z. Für alle Exponenten s ∈ ℂ konvergiert die Reihe für alle z ∈ ℂ mit |z| < 1, also in der offenen Einheitskreisscheibe. Das Additionstheorem gilt unverändert.