Die Stetigkeit der Umkehrfunktion
Ist f : P → ℝ injektiv, so existiert die Umkehrfunktion f −1 : Q → ℝ mit
Q = f [ P ] = { f (x) | x ∈ P }, f −1(f (x)) = x für alle x ∈ P.
Ist f streng monoton, so ist f injektiv, sodass f −1 existiert. Wir zeigen nun, dass viele streng monotone Funktion eine stetige Umkehrfunktion besitzen. Bemerkenswert ist, dass dabei die Stetigkeit von f nicht vorausgesetzt wird. Entscheidend ist die Struktur des Definitionsbereichs von f, nicht die Stetigkeit der Funktion. Ein instruktives Beispiel hierzu ist:
Beispiel: Ankleben eines Intervalls
Sei P = [ 0, 1 ] ∪ ] 2, 3 ]. Wir definieren f : P → ℝ durch
f (x) = x für x ∈ [ 0, 1 ], f (x) = x − 1 für x ∈ ] 2, 3 ].
Dann ist f streng monoton steigend (und zudem stetig), aber die Umkehrfunktion f −1 : [ 0, 2 ] → ℝ hat eine Unstetigkeitsstelle bei 1. Anschaulich klebt die Funktion f das Intervall ] 2, 3 ] an das Intervall [ 0, 1 ] an, durch eine Verschiebung um 1 nach links. Die Umkehrfunktion macht dieses Verkleben wieder rückgängig, sodass das Intervall [ 0, 2 ] an der Nahtstelle 1 aufgeschnitten wird.
Der Leser zeichne den Graphen von f. Durch Spiegelung an der Winkelhalbierenden oder (einfacher) Betrachtung des Graphen aus Richtung der y-Achse lässt sich das Phänomen klar vor Augen führen. Der fehlende Definitionsbereich ] 1, 2 ] von f wird zum Sprung von f −1.
Wesentlich für die Konstruktion ist, dass der rechte Grenzpunkt des Intervalls [ 0, 1 ] zum Definitionsbereich von f gehört, während die linke Grenze von ] 2, 3 ] nicht im Definitionsbereich liegt. Wir werden sehen, dass es keine derartigen Beispiele für die Definitionsbereiche [ 0, 1 ] ∪ [ 2, 3 ] und [ 0, 1 [ ∪ ] 2, 3 ] gibt. Hier ist die Umkehrfunktion einer streng monotonen Funktionen immer stetig.
Das Beispiel motiviert folgende Begriffsbildung:
Definition (Riss)
Sei P ⊆ ℝ. Weiter seien a, b ∈ ℝ mit a < b. Dann heißt das Intervall ] a, b ] ein Riss von P an der Stelle a, falls gilt:
[ a, b ] ∩ P = { a } und b ist ein Häufungspunkt von P.
Analog heißt [ a, b [ ein Riss von P an der Stelle b, falls gilt:
[ a, b ] ∩ P = { b } und a ist ein Häufungspunkt von P.
Die Menge P heißt rissfrei, falls P keine Risse besitzt.
Ist ein Intervall I ein Riss von P, so gilt P ∩ I = ∅. Weiter enthält P genau einen der beiden Randpunkte des Intervalls. Der andere Randpunkt ist ein (einseitiger) Häufungspunkt von P, der nicht zu P gehört.
Beispiele
(1) | Sei P = [ 0, 1 ] ∪ ] 2, 3 ] wie im Beispiel oben. Dann ist ] 1, 2 ] ein Riss von P an der Stelle 1. Analog ist ] 1, 2 ] ein Riss von [ 0, 1 [ ∪ [ 2, 3 ] an der Stelle 2. |
(2) | Die Menge [ 0, 1 [ ∪ { 2 } ∪ ] 3, 4 ] hat die Risse [ 1, 2 [ und ] 2, 3 ] bei 2. |
(3) | Die Mengen [ 0, 1 ] ∪ [ 2, 3 ] und [ 0, 1 [ ∪ ] 2, 3 ] sind rissfrei. |
(4) | Jedes Intervall (gleich welchen Typs) ist rissfrei. |
(5) | ℚ hat keine Risse. Allgemein gilt dies für jede dichte Teilmenge der reellen Zahlen. |
(6) | Sei P abgeschlossen, d. h. P enthält alle Häufungspunkte von P. Dann ist P rissfrei. Insbesondere ist jede endliche Menge rissfrei. |
Wir zeigen nun einen sehr allgemeinen Satz über die Stetigkeit der Umkehrfunktion. Zur Vorbereitung halten wir fest (Beweis als Übung):
Satz (Umkehrfunktionen streng monotoner Funktionen)
Sei f : P → ℝ streng monoton steigend. Dann gilt:
(a) | f −1 : Q → ℝ ist streng monoton steigend. |
(b) | Seien a, b ∈ P mit a < b. Dann gilt: f −1[ [ f (a), f (b) ] ∩ Q ] = [ a, b ] ∩ P. |
Analoge Aussagen gelten für streng monoton fallende Funktionen.
Prinzipiell genügt es, sich auf einen Monotonietyp zu konzentrieren. Denn ist f streng monoton steigend, so ist −f streng monoton fallend (und umgekehrt). Die Stetigkeitspunkte von f entsprechen denen von −f.
Damit können wir nun zeigen:
Satz (Unstetigkeitstellen streng monotoner Umkehrfunktionen)
Sei f : P → ℝ streng monoton. Weiter sei p ∈ P derart, dass f −1 : Q → ℝ unstetig an der Stelle q = f (p) ist. Dann existiert ein Riss von P bei p.
Beweis
Wir nehmen ohne Einschränkung an, dass f (und damit auch f −1) streng monoton steigt. Da f −1 unstetig bei q ist, gibt es ein ε > 0 mit:
∀δ > 0 ∃y ∈ Q (|y − q| < δ ∧ |f −1(y) − f −1(q)| ≥ ε).
Dies ist (mit q = f (p) und y = f (x) für ein x ∈ P) äquivalent zu
(+) ∀δ > 0 ∃x ∈ P (|f (x) − f (p)| < δ ∧ |x − p| ≥ ε).
Wir setzen:
L = { x ∈ P | x ≤ p − ε }, R = { x ∈ P | x ≥ p + ε }.
Nach (+) gilt (nicht ausschließlich):
q = sup(f [ L ]) oder q = inf (f [ R ]).
1. Fall: q = sup(f [ L ])
Sei a = sup(L). Dann gilt a ≤ p − ε < p. Weiter ist a ∉ L, da nach Monotonie sonst f (a) < f (p) = q = sup(f [ L ]) ≤ f (a) gelten würde. Dies zeigt, dass [ a, p [ ein Riss von P an der Stelle p ist.
2. Fall: q = inf (f [ R ])
Mit a = inf (R) ist analog ] p, a ] ein Riss von P bei p.
Durch Kontraposition erhalten wir:
Satz (Stetigkeit der der Umkehrfunktion bei strenger Monotonie)
Sei P rissfrei, und sei f : P → ℝ streng monoton. Dann ist f −1 : Q → ℝ stetig.
Betont sei dabei noch einmal:
Keine Stetigkeitsvoraussetzung an f
Wir setzen nicht voraus, dass die Funktion f : P → ℝ stetig ist. Die streng monotone Funktion f kann sehr wilde Sprünge machen, aber diese Sprünge führen zu zerklüfteten Definitionsbereichen der Umkehrfunktion und nicht zu Unstetigkeitsstellen.
Die beiden vielleicht wichtigsten Spezialfall sind:
Korollar (Stetigkeit der Umkehrfunktion für abgeschlossene Mengen)
Sei P abgeschlossen, und sei f : P → ℝ streng monoton. Dann ist f −1 stetig.
Korollar (Stetigkeit der Umkehrfunktion für Intervalle)
Sei I ein Intervall, und sei f : I → ℝ streng monoton. Dann ist f −1 stetig.
Im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass der Definitionsbereich einer Umkehrfunktion f −1 ein Intervall ist, falls f eine auf einem Intervall definierte stetige Funktion ist. Damit bildet eine streng monotone stetige Funktion Intervalle auf Intervalle ab.
Die Voraussetzung „rissfrei“ lässt sich nicht weiter verallgemeinern:
Satz (unstetige Umkehrfunktionen bei Rissen)
Sei P ⊆ ℝ, und sei ] a, b ] ⊆ ℝ ein Riss von P. Dann existiert eine streng monotone Funktion f : P → ℝ mit einer in a unstetigen Umkehrfunktion.
Analoges gilt für Risse des Typs [ a, b [.
Beweis
Da ] a, b ] ein Riss von P ist, gilt
a ∈ P, P ∩ ] a, b ] = ∅, b = inf(P ∩ ] b, ∞ [).
Wir definieren f : P → ℝ durch
f (x) = x für x ∈ P, x ≤ a, f (x) = x − (b − a) für x ∈ P, x > b.
Dann ist f streng monoton steigend. Weiter gilt:
(+) f −1 ist unstetig an der Stelle f (a).
Beweis von (+)
Sei ε = b − a. Sei δ > 0 beliebig. Wegen b = inf(P ∩ ] b, ∞ [) gibt es ein x > b in P mit
|x − b| < δ ∧ |x − a| ≥ ε.
Dann gilt mit f (x) = x − (b − a) und f (a) = a:
|f (x) − f (a)| < δ ∧ |x − a| ≥ ε.
Für y = f (x) und a = f (a) gilt also:
|y − a| < δ ∧ |f −1(y) − f −1(a)| ≥ ε.
Dies zeigt, dass f −1 unstetig an der Stelle a ist.
Analog wird ein Riss der Form [ a, b [ behandelt.
Die im Beweis konstruierte Funktion verallgemeinert f : [ 0, 1 ] ∪ ] 2, 3 ] → ℝ wie im Eingangsbeispiel.
Direkter Beweis des Satzes für Intervalle
Wir geben noch einen direkteren Beweis für die Stetigkeit der Umkehrfunktion einer auf einem Intervall definierten Funktion, der ohne den Begriff „Riss“ auskommt. Wer also vorerst nicht tiefer einsteigen möchte, erhält hier eine Kurzfassung für einen wichtigen Spezialfall.
Satz (Stetigkeit der Umkehrfunktion für Intervalle)
Sei I ein Intervall, und sei f : I → ℝ streng monoton. Dann ist f −1 stetig.
Beweis
Wir nehmen an, dass f (und damit auch f −1 streng monoton steigt. Der andere Fall wird analog oder durch Übergang zu −f behandelt.
Sei q ∈ Q beliebig, und sei p = f −1(q), d. h. es gilt q = f (p). Wir zeigen, dass f −1 : Q → ℝ ε-δ-stetig in q ist. Sei hierzu ε > 0. Wir suchen ein δ > 0 mit
∀y ∈ Q (|y − q| < δ → |f −1(y) − p| < ε).
1. Fall: p ist kein Randpunkt des Intervalls I
Durch etwaige Verkleinerung von ε können wir annehmen, dass [ p − ε, p + ε ] ⊆ I. Sei nun δ > 0 so klein, dass
] q − δ, q + δ [ ⊆ ] f (p − ε), f (p + ε) [.
Dann ist δ wie gewünscht. Denn sei y ∈ Q mit |y − q| < δ. Dann gilt
f(p − ε) < y < f(p + ε).
Da f −1 streng monoton steigt, gilt
p − ε < f −1(y) < p + ε.
2. Fall: p ist der linke Randpunkt des Intervalls I, d. h. q = min(Q)
Wir können I ≠ { p } und [ p, p + ε ] ⊆ I annehmen. Sei δ > 0 so klein, dass
[ q, q + δ [ ⊆ [ q, f (p + ε) [.
Ist nun y ∈ Q mit |y − q| < δ, so gilt q ≤ y und
f (p) ≤ y < f(p + ε).
Da f −1 streng monoton steigt, gilt also
p ≤ f −1(y) < p + ε.
3. Fall: p ist der rechte Randpunkt des Intervalls I, d. h. q = max(Q)
Analog zum zweiten Fall.