Der Zwischenwertsatz von Bolzano-Cauchy

 Ist f : [ a, b ]   eine stetige Funktion mit f (a) < 0 und f (b) > 0, so ist anschaulich klar, dass die Funktion mindestens eine Nullstelle besitzt. Denn andernfalls müsste sie vom negativen Bereich, in dem sie beginnt, auf dem Weg von a nach b irgendwann in den positiven Bereich, in dem sie endet, springen, und stetige Funktionen haben keine Sprungstellen. Diese Anschauung ist richtig, aber ihre Umsetzung in ein mathematisches Argument ist keineswegs trivial. Wir beobachten hierzu:

Satz (positive und negative Umgebungen)

Sei f : P   stetig, und sei p  ∈  P mit f (p) > 0. Dann ist f in einer offenen Umgebung von p positiv, d. h., es gibt ein δ > 0 mit der Eigenschaft:

Für alle x  ∈  ] p − δ, p + δ [ ∩ P gilt f (x) > 0.

Analoges gilt im Fall f (p) < 0.

Beweis

Die Existenz von δ folgt unmittelbar aus der ε-δ-Charakterisierung der Stetigkeit für die Wahl von ε = f (p) > 0.

 Diese einfache Beobachtung trägt den Beweis des folgenden Satzes:

Satz (Nullstellensatz)

Sei f : [ a, b ]   stetig, und f habe verschiedene Vorzeichen bei a und b. Dann existiert ein p  ∈  ] a, b [ mit f (p) = 0.

Beweis

Wir nehmen an, f (a) < 0 und f (b) > 0. Der Fall f (a) > 0 und f (b) < 0 wird analog behandelt. Die Menge X = { x  ∈  [ a, b ] | f (x) ≥ 0 } ist beschränkt und wegen f (b) > 0 nichtleer. Also existiert

p  =  inf (X).

Zunächst gilt f (p) ≤ 0: Annahme, f (p) > 0. Dann ist p  ∈  ] a, b ] wegen f (a) < 0. Dann gibt es aber ein p′  ∈  ] a, p [ mit f (p′) > 0, im Widerspruch zu p = inf (X). (Hier geht ein, dass der Definitionsbereich von f ein Intervall ist, sodass ] p − δ, p [ ∩ P ≠ ∅ für alle δ > 0.)

Wir zeigen nun, dass f (p) ≥ 0. Wegen p = inf (X) existiert eine Folge (xn)n  ∈   in X mit p = limn xn. Wegen xn  ∈  X ist f (xn) ≥ 0 für alle n. Aufgrund der Stetigkeit von f gilt also

f (p)  =  f(limn xn)  =  limn f (xn)  ≥  0.

Damit ist f (p) ≤ 0 und f (p) ≥ 0, sodass f (p) = 0 (und damit p ≠ a, b).

 Die in diesem Beweis gefundene Nullstelle p ist offenbar die kleinste Nullstelle von f. Ebenso ist sup { x  ∈  [ a, b ] | f (x) ≤ 0 } die größte Nullstelle von f.

 Der Nullstellensatz beruht auf der Vollständigkeit von . So ist zum Beispiel die Funktion f : [ 0, 2 ] ∩    mit f (x) = x2 − 2 für alle x  ∈  [ 0, 2 ] ∩  stetig und es gilt f (0) < 0 und f (2) > 0. Die Funktion besitzt aber aufgrund der Irrationalität der Quadratwurzel aus 2 keine Nullstelle.

 Explizit notieren wir:

Satz (Nullstellensatz, Umformulierung)

Sei f : P   stetig, und seien a, b  ∈  P mit a < b, [ a, b ] ⊆ P und f (a), f (b) ≠ 0. Haben dann f (a) und f (b) verschiedene Vorzeichen, so gibt es eine Nullstelle von f zwischen a und b.

 Damit erhalten wir:

Korollar (Existenz von Nullstellen von Polynomen ungeraden Grades)

Sei f :    ein reelles Polynom ungeraden Grades,

f (x)  =  anxn  +  …  +  a1x  +  a0  für alle x  ∈  ,

mit ak  ∈  , an ≠ 0, n ungerade. Dann existiert eine Nullstelle von f.

Beweis

Ist x > 0 genügend groß, so haben f (−x) und f (x) verschiedene Vorzeichen.

 Der Nullstellensatz impliziert den allgemeineren

Satz (Zwischenwertsatz, Satz von Bolzano-Cauchy)

Sei f : [ a, b ]   stetig. Seien c, d  ∈  [ a, b ] und y  ∈   derart, dass y zwischen f (c) und f (d) liegt. Dann existiert ein p zwischen c und d mit f (p) = y.

Beweis

Wir setzen I = [ c, d ], falls c < d, und I = [ d, c ], falls d < c, und wenden den Nullstellensatz auf g : I   mit g(x) = f (x) − y für alle x  ∈  I an.

 Eine hübsche Anwendung des Zwischenwertsatzes ist:

Korollar (Existenz von Wurzeln)

Seien y  ∈  [ 0, ∞ [ und n ≥ 2. Dann existiert genau eine positive n-te Wurzel von y, d. h., es gibt genau ein p  ∈  [ 0, ∞ [ mit pn = y.

Beweis

Wir betrachten die Funktion f : [ 0, ∞ [   mit f (x) = xn für alle x  ∈  [ 0, ∞ [.

Dann ist f stetig, f (0) = 0 und f nimmt beliebig große Werte an. Nach dem Zwischenwertsatz wird also auch der Wert y angenommen, d. h., es gibt ein p  ∈  [ 0, ∞ [ mit f (p) = y. Die Eindeutigkeit folgt aus der Injektivität von f.

Der Fixpunktsatz

 Wir betrachten das Quadrat E = [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ]. Ziehen wir von irgendeinem Punkt a der linken Kante von E eine stetige Linie zu irgendeinem Punkt b der rechten Kante von E, so ist anschaulich klar, dass wir irgendwann die Diagonale D = { (x, x) | x  ∈  [ 0, 1 ] } des Quadrats treffen müssen. In der Tat gilt für alle stetigen Funktionen:

Satz (Fixpunktsatz)

Sei f : [ a, b ]  [ a, b ] stetig. Dann existiert ein Fixpunkt von f, d. h.:

Es gibt ein p  ∈  [ a, b ] mit f (p) = p.

Beweis

Ist f (a) = a oder f (b) = b, so ist a oder b ein Fixpunkt der Funktion f. Wir nehmen also an, dass f (a) > a und f (b) < b gilt. Sei g = f − id[ a, b ], sodass

g(x)  =  f (x)  −  x  für alle x  ∈  [ a, b ].

Dann ist g stetig, und es gilt g(a) = f (a) − a > 0 und g(b) = f (b) − b < 0. Damit haben g(a) und g(b) verschiedene Vorzeichen. Nach dem Nullstellensatz gibt es also ein p  ∈   ] a, b [ mit

g(p)  =  f (p) − p  =  0.

Dann ist aber f (p) = p.

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Eine stetige Funktion f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ] besitzt einen Fixpunkt.

 Die Idee lässt sich variieren. So gibt es zum Beispiel für eine stetige Funktion f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ] ein p mit f (p) = p2.

Injektivität und Monotonie

 Ist f : P   streng monoton (steigend oder fallend), so ist f offenbar injektiv, sodass f −1 : f [ P ]   existiert. Eine natürliche Frage ist, wie weit sich diese Implikation umkehren lässt:

Ist eine injektive stetige Funktion streng monoton?

 Die folgenden Beispiele zeigen, dass dies nicht immer der Fall sein muss.

Beispiele

(1)

Sei f :   die Hyperbel mit f (x) = 1/x für alle x  ∈  *. Dann ist f stetig und injektiv. Die Funktion f ist streng monoton fallend auf dem linken Ast ] −∞, 0 [ und auch streng monoton fallend auf dem rechten Ast ] 0, ∞ [. Aber es gilt zum Beispiel f (−1) = −1 < 1 = f (1), sodass f nicht streng monoton ist.

(2)

Sei P = [ 0, 1 ]  [ 2, 3 ], und sei f : P   definiert durch

f (x)  =  x  falls  x  ∈  [ 0, 1 ],  f (x)  =  5 − x  falls  x  ∈  [ 2, 3 ].

Dann ist f injektiv und stetig, aber nicht monoton.

 Mit dem Zwischenwertsatz können wir nun zeigen, dass die Implikation in einem wichtigen Spezialfall gilt: Ist der Definitionsbereich von f ein Intervall, so zieht die Injektivität die strenge Monotonie nach sich. Nützlich hierzu ist folgender Hilfssatz:

Satz (nichtmonotone Tripel)

Sei f : P   nicht streng monoton. Dann gibt es x < y < z in P mit:

(1)  f (x) ≤ f (y) und f (y) ≥ f (z)  oder  (2)  f (x) ≥ f (y) und f (y) ≤ f (z).

 Im ersten Fall erzeugen f (x), f (y), f (z) ein Dreieck im Graphen von f, dessen Maximum im mittleren Punkt y angenommen wird. Im zweiten Fall wird das Minimum des Dreiecks bei y angenommen. Das Dreieck kann degeneriert sein.

 Der Beweis des Hilfssatzes sei dem Leser überlassen. Zusammen mit dem Zwischenwertsatz ergibt sich nun leicht (ebenfalls als Übung):

Satz (Injektivität und Monotonie auf Intervallen)

Sei I ein Intervall, und sei f : I   stetig und injektiv. Dann ist f streng monoton.

 Der Satz gilt für alle Intervalltypen. Entscheidend ist, dass I mit je zwei Punkten x und y alle Punkte zwischen x und y enthält.

 Ist I nicht einpunktig, so können wir zwei beliebige Stellen x0 < x1 in I verwenden, um den Monotonietyp zu ermitteln: Ist f (x0) < f (x1), so ist f streng monoton steigend. Ist f (x0) > f (x1), so ist f streng monoton fallend.