Sinus und Kosinus

Definition (Sinus, Kosinus)

Wir definieren den Sinus sin :    und den Kosinus cos :    durch:

sin(x)  =  Im(eix),  cos(x)  =  Re(eix)  für alle x  ∈  .

 Zur Vereinfachung der Notation schreiben wir oft auch sinx statt sin(x) und cos x statt cos(x). Weiter ist sin2x = sin(x)2, cos2x = cos(x)2 usw.

 Aus der Definition fließen viele Eigenschaften der beiden Funktionen:

Satz (elementare Eigenschaften des Sinus und Kosinus)

Für alle x, y  ∈   gilt:

(a)

eix  =  cos x  +  i sin x, (Eulersche Formel)

sin x  =  eix  −  e−ix2i,  cos x  =  eix  +  e−ix2,

(b)

sin x  =  n (−1)n x2n + 1(2n + 1)!, (Sinusreihe)

cos x  =  n (−1)n x2n(2n)!, (Kosinusreihe)

(c)

sin und cos sind stetig,

(d)

sin2x  +  cos2x  =  1,  |sin x |  ≤  1,  |cos x|  ≤  1,

(e)

sin(−x)  =  − sin x,  cos(−x)  =  cos x,

(f)

sin(x + y)  =  sin x cos y  +  cos x sin y,

cos(x + y)  =  cos x cos y  −  sin x sin y, 

sin(2x)  =  2 sin x cos x, 

cos(2x)  =  cos2x  −  sin2x, (Additionstheoreme)

(g)

sin x  +  sin y  =  2 cos s sin t,

cos x  +  cos y  =  2 cos s cos t,

sin x  −  sin y  =  2 sin s cos t,

cos x  −  cos y  =  − 2 sin s sin t,

wobei s = (x − y)/2 und t = (x + y)/2. (Summenformeln)

analysis1-AbbID99
Beweis

zu (a):  Es gilt ei x = Re(ei x) + i Im(ei x)  =  cos x  +  i sin x. Die anderen Aussagen folgen aus Re(z) = (z + z)/2, Im(z) = (z − z)/(2 i) und dem Satz über die Konjugation der Exponentialfunktion.

zu (b):  Für alle k  ∈   gilt

i4 k  =  1,  i4 k + 1  =  i,  i4 k + 2  =  −1,  i4 k + 3  =  − i.

Damit gilt für alle x  ∈  :

cos x  +  i sin x =  ei x  =  n in xn/n!
=  n (−1)n x2 n(2 n)!  +  i  n (−1)n x2 n + 1(2 n + 1)!.

Im letzten Schritt wird verwendet, dass in  limn zn = z genau dann gilt, wenn limn Re(zn) = Re(z) und limn Im(zn) = Im(z).

zu (c):  Die Stetigkeit von Sinus und Kosinus folgt aus der Stetigkeit der komplexen Exponentialfunktion und der Stetigkeit der Real- und Imaginärteilfunktion.

zu (d):  Es gilt

sin2 x  +  cos2 x  =  Im(ei x)2  +  Re(ei x)2  =  |ei x|2  =  1.

Hieraus folgen auch die Ungleichungen |sin(x)| ≤ 1 und |cos(x)| ≤ 1.

zu (e):  Es gilt cos(−x)  +  i sin(−x)  =  e−i x  =  eix  =  cos x  −  i sin x.

zu (f):  Es gilt

cos(x + y)  +  i sin(x + y)  =  ei (x + y)  =  ei x ei y

 =  (cos x + i sin x) (cos y + i sin y)

 =  cos x cos y − sin x sin y  +  i (sin x cos y + cos x sin y).

zu (g):  Übung.

Verlaufsanalyse des Kosinus

 Offensichtlich sind an dieser Stelle nur die Werte sin0 = 0 und cos0 = 1, die sich aus e0 = 1 ergeben. Die weitere Untersuchung des Werteverhaltens lässt sich durch eine technische Analyse der Reihendarstellungen in Gang bringen.

analysis1-AbbID100

Einschließung des Kosinus im Intervall [ 0, 3 ]

Satz (Verlaufsanalyse des Kosinus)

Der Kosinus ist im Intervall [ 0, 2 ] streng monoton fallend und besitzt dort genau eine Nullstelle x*. Der Sinus ist im Intervall [ 0, x* ] streng monoton steigend, und es gilt sin(x*) = 1.

Beweis

Die Reihen sin x  =  n (−1)n x2 n + 1/(2 n + 1)! und cos x  =  n (− 1)n x2 n/(2 n)! sind für alle x alternierend. Aus dem Leibniz-Kriterium erhalten wir:

x  −  x3/3!  <  sin x  <  x  −  x3/3!  +  x5/5!,

1  −  x2/2!  <  cos x  <  1  −  x2/2!  +  x4/4! für alle 0 < x < 3,

denn für x  ∈  ] 0, 3 [ und n ≥ 2 gilt xn/n! > xn + 1/(n + 1)!. Damit gilt:

(a)

sin x  >  x (1 − x2/6)  >  0  für alle x  ∈  ] 0, 2 ],

(b)

cos 2  <  1  −  22/2!  +  24/4!  =  1  −  2  +  2/3  =  −1/3  <  0.

Aus cos 0 = 1, (b) und dem Zwischenwertsatz folgt, dass der Kosinus in [ 0, 2 ] eine Nullstelle besitzt. Es bleibt zu zeigen, dass der Kosinus in [ 0, 2 ] streng monoton fällt. Denn dann ist die Nullstelle in [ 0, 2 ] eindeutig und die Behauptungen über den Sinus folgen aus sin x = 1cos2x.

Nach Eigenschaft (g) gilt für alle x, y  ∈  , dass

cos y  −  cos x  =  2 sin s sin t,

mit s = (x − y)/2 und t = (x + y)/2. Ist nun 0 ≤ y < x ≤ 2, so gilt s, t  ∈  ] 0, 2 ], und nach (a) sind daher sin s und sin t positiv. Folglich ist die Differenz cos y − cos x positiv, und damit ist cos streng monoton fallend in [ 0, 2 ].

 Der Satz erlaubt uns die folgende Definition:

Definition (analytische Definition von π)

Wir definieren die reelle Zahl π durch

π2  =  „die kleinste positive Nullstelle des Kosinus.“

 Es gilt also cos(π/2) = 0 und sin(π/2) = 1. Aus der Sicht der Exponentialfunktion ist wegen

ei x  =  cos x  +  i sin x

π/2 die kleinste positive reelle Zahl x, für die ei x den Wert i annimmt. Damit gilt

ei π  =  ei π/2 · ei π/2  =  i  ·  i  =  −1,

und wir erhalten:

Satz (Eulersche Identität)

Es gilt ei π + 1  =  0.

 Kosinus und Sinus besitzen nach Definition eine geometrische Bedeutung (als Koordinaten eines Punktes auf dem Einheitskreis), aber es ist noch nicht klar, dass die gerade definierte Zahl π und die geometrisch definierte Kreiszahl ein und dasselbe sind. Wir wissen noch nicht, dass in den Definitionen

cos x  =  Re(ei x),  sin x  =  Im(ei x)

die reelle Zahl x ein Winkel im Bogenmaß ist. Wir stellen den Bau dieser Brücke zwischen Analysis und Geometrie noch etwas zurück, bis wir den Verlauf des Kosinus und Sinus befriedigend geklärt haben. Erst durch diese Brücke wird die Eulersche Identität mit ihrer einzigartigen Verbindung der fünf fundamentalen Größen e, i, π, 0 und 1 zur wahren Schönheitskönigin der Mathematik.

 Ohne weitere Arbeit erhalten wir aus unserer elementaren Verlaufsanalyse:

Korollar (Werte für Vielfache von π/2)
ei π/2  =  i,  ei π  =  −1,  ei 3 π/2  =  −i,  ei 2π  =  1,
cos(π/2)  =  0,  cos(π)  =  −1,  cos(3 π/2)  =  0,  cos(2π)  =  1,
sin(π/2)  =  1,  sin(π)  =  0,  sin(3 π/2)  =  −1,  sin(2π)  =  0.
Beweis

Wir wissen schon, dass ei π/2 = i. Die anderen Werte der ersten Zeile der Tabelle folgen aus dem Additionstheorem für die Exponentialfunktion.

Die zweite und dritte Zeile ergeben sich aus der ersten durch Anwendung der Eulerschen Formel ei x = cos x + i sin x.

Perioden, Nullstellen und Monotonie

 Auch die Periodizität, die Nullstellen und das Monotonieverhalten der trigonometrischen Funktionen lassen sich ohne große Mühe aus unserer elementaren Verlaufsanalyse gewinnen. Wir beginnen mit:

Korollar (Periodizität von exp, sin und cos)

Für alle z  ∈   und x  ∈   gilt:

(a)

ez + i π/2  =  i ez,  ez + i π  =  − ez,  ez + i 3 π/2  =  −i ez,  ez + i 2π  =  ez,

(b)

cos(x + π/2)  =  − sin x,  cos(x + π)  =  − cos x,

cos(x + 3π/2)  =  sin x,  cos(x + 2π)  =  cos x,

(c)

sin(x + π/2)  =  cos x,  sin(x + π)  =  − sin x,

sin(x + 3π/2)  =  − cos x,  sin(x + 2π)  =  sin x,  

(d)

sin x  =  cos(π/2 − x),  cos x  =  sin(π/2 − x).

Beweis

Die Eigenschaften (a) ergeben sich aus den Werten ei π/2, ei π, ei 3π/2, ei 2 π und dem Additionstheorem, und (b), (c) folgen dann aus der Eulerschen Formel für die Wahl von z = i x, x  ∈  . Für (d) beobachten wir, dass

sin x  =  sin(x − π/2 + π/2)  =  cos(x − π/2)  =  cos(π/2 − x), 

cos x  =  cos(x − π/2 + π/2)  =  − sin(x − π/2)  =  sin(π/2 − x).

 Die Graphen von Sinus und Kosinus gehen also durch eine Verschiebung entlang der x-Achse auseinander hervor. Verschieben wir den Sinus um π/2 nach links oder 3π/2 nach rechts, so erhalten wir den Kosinus. Umgekehrt liefert eine Verschiebung des Kosinus um π/2 nach rechts oder 3π/2 nach links den Sinus.

 Als Nächstes bestimmen wir die Nullstellen des Sinus und Kosinus.

Korollar (Nullstellen des Sinus und Kosinus)

Es gilt cos(π/2 + k π) = sin(k π) = 0 für alle k  ∈  , und die Funktionen haben keine weiteren Nullstellen.

Beweis

Dass die angegebenen Zahlen Nullstellen des Kosinus sind, folgt aus cos(π/2) = 0 und der Periodizitätsformel cos(x + π) = − cos(x). Da der Kosinus wegen cos(−x) = cos(x) keine Nullstelle in ] −π/2, π/2 [ besitzt, folgt erneut aus cos(x + π) = − cos(x), dass keine weiteren Nullstellen existieren. Aus sin(x + π/2) = cos(x) folgen die Behauptungen für den Sinus.

 Damit erhalten wir:

s

Korollar (Minimalität der Periode von exp)

Für alle z, w  ∈   gilt ez = ez + w genau dann, wenn w  ∈  { k2πi | k  ∈   }.

 Der Beweis kann dem Leser überlassen bleiben. Wir zeigen hier noch:

Korollar (Monotonieverhalten des Sinus und Kosinus)

Der Kosinus ist streng monoton fallend in [ 0, π ] und streng monoton steigend in [ π, 2π ]. Der Sinus ist streng monoton steigend in [ 0, π/2 ] und [ 3π/2, 2π ] und streng monoton fallend in [ π/2, 3π/2 ].

Beweis

Wir wissen, dass der Kosinus in [ 0, π/2 ] streng monoton von 1 nach 0 fällt. Wegen cos(x + π/2) = − sin x = − 1cos2(x) ist der Kosinus auch noch streng monoton fallend in [ π/2, π ] (von 0 nach −1). Mit cos(x + π) = −cos(x) sind also die Monotoniebehauptungen für den Kosinus bewiesen. Die Aussagen für den Sinus folgen aus der Formel

sin x  =  −cos(x + π/2).

 Damit haben wir viele anschauliche Eigenschaften der bekannten graphischen Darstellungen des Sinus und Kosinus nachgewiesen: Nullstellen, Extremwerte, Monotonieverhalten, Periodizität, Translationseigenschaften, Parität. Auch die Punkte x mit der Eigenschaft „sin x = cos x“ können wir leicht ermitteln, denn aus sin x = cos(π/2 − x) erhalten wir, dass

sin(π/4)  =  cos(π/2 − π/4)  =  cos(π/4),  und 

sin(π/4 + π)  =  − sin(π/4)  =  − cos(π/4)  =  cos(π/4 + π).

Wegen sin2 x + cos2 x = 1 und sin(π/4) = cos(π/4) > 0 ist weiter

sin(π/4)  =  cos(π/4)  =  2/2  und  sin(5π/4)  =  cos(5π/4)  =  − 2/2.

Durch das Monotonieverhalten sind andere Stellen x in [ 0, 2π ] mit der Eigenschaft sin x = cos x ausgeschlossen.

analysis1-AbbID101