Einheitswurzeln und Berechnung des Kreisumfangs
Wir können nun die Lösungen der Gleichung zn = 1 leicht notieren:
Definition (Einheitswurzeln)
Sei n ≥ 1. Dann setzen wir τn = 2π/n und
ζk, n = ei k 2π/n = ei k τn für k = 0, … , n − 1.
Die Zahlen ζ0, n, …, ζn − 1, n heißen die n-ten Einheitswurzeln. Wir schreiben auch kurz τ statt τn und ζk statt ζk, n.
Je zwei n-te Einheitswurzeln sind verschieden, da andernfalls eix = 1 für ein reelles x ∈ ] 0, 2π [ gelten würde, was nicht sein kann.
Wir zeigen nun ohne Verwendung der geometrischen Multiplikationsregel, dass die n-ten Einheitswurzeln die Gleichung zn = 1 lösen und auf dem Einheitskreis gleichmäßig verteilt sind.
Satz (über die Einheitswurzeln)
Für alle n ≥ 1 sind die n-ten Einheitswurzeln die komplexen Lösungen der Gleichung zn = 1. Sie sind die Ecken des regelmäßigen in den Einheitskreis
K = { z ∈ ℂ | |z| = 1 }
einbeschriebenen n-Ecks, dem der Punkt 1 angehört. Der Umfang dieses n-Ecks ist
n · |ei τ − 1| = 2 n sin(π/n) = 2 n sin(τ/2) wobei τ = 2π/n.
Die achten Einheitswurzeln ζ0, …, ζ7
Beweis
Sei n ≥ 1. Für alle k < n gilt
(ζk)n = (ei k 2π/n)n = ei k 2π = 1.
Weiter ist ζ0 = e0 = 1 und für alle k gilt
|ei (k + 1) τ − ei k τ| = |ei k τ| · |ei τ − 1| = |ei τ − 1|.
Damit bilden die n-ten Einheitswurzeln ein gleichseitiges n-Eck in K, dem der Punkt 1 angehört. Schließlich ist
|ei 2π/n − 1| | = |ei π/n| |ei π/n − e−i π/n| |
= 2 |Im(ei π/n)| | |
= 2 sin(π/n). |
Der Sinus kommt also als Imaginärteil ins Spiel. Die Berechnung des Beweises läßt sich geometrisch leicht einsehen:
|ei 2π/n − 1| = |ei π/n − e−i π/n| = 2 |Im(ei π/n)| = 2 sin(π/n)
Aus dem Satz über die Einheitswurzeln, der Verlaufsanalyse des Kosinus und Sinus und der Stetigkeit der komplexen Exponentialfunktion folgt, dass die Funktion f : ℝ → ℂ mit f (x) = ei x für alle x ∈ ℝ eine gleichmäßige 2π-periodische Kreisaufwicklung gegen den Uhrzeigersinn beschreibt. Es fehlt nur noch ein letztes Element, um die Brücke zwischen den analytischen und geometrischen Definitionen von π zu errichten: Die Längentreue der Aufwicklung. Es ist ja keineswegs klar, dass die analytische Periode 2π der Funktion f genau der geometrische Umfang des Einheitskreises ist. Sie könnte zum Beispiel auch die Hälfte oder das Vierfache dieses Umfangs sein. Die klassische geometrische Bestimmung dieses Umfangs besteht nun aber gerade aus der Berechnung der Umfänge der einbeschriebenen regelmäßigen n-Ecke und der Durchführung des zugehörigen Grenzübergangs. Damit müssen wir nur noch den Grenzwert
limn ≥ 1 2n sin(π/n)
der Umfänge der regelmäßigen n-Ecke im Einheitskreis bestimmen. Entscheidend hierfür ist:
Satz (Sinussteigung im Nullpunkt)
Es gilt limx → 0, x ≠ 0 sin xx = 1.
Beweis
Für x ∈ ] 0, 3 ] gilt nach der Verlaufsanalyse
x − x3/3! < sin x < x, sodass
1 − x26 < sin xx < 1.
Dies zeigt, dass
limx ↓ 0 sin xx = 1.
Aus der Formel sin(−x) = −sin x folgt die Behauptung.
Die Funktion f : ℝ* → ℝ mit f (x) = sin(x)/x für alle x ≠ 0
Damit erhalten wir:
Satz (Berechnung des Kreisumfangs, analytisches π als Kreiszahl)
Es gilt
limn ≥ 1 2n sin(π/n) = 2π.
Die Umfänge von regelmäßigen in den Einheitskreis einbeschriebenen n-Ecken konvergieren also gegen 2π.
Beweis
Nach dem Satz gilt
limn ≥ 1 2n sin(π/n) = 2π limn ≥ 1 sin(π/n)π/n = 2π · 1 = 2π.
Eine analoge Argumentation zeigt allgemeiner:
Satz (x als Bogenmaß in ei x)
Sei x ∈ ℝ. Für alle n ≥ 1 seien
pnk = ei k/n x für alle k ≤ n,
bn = ∑k < n |pnk + 1 − pnk|.
Dann gilt
bn = 2 n |sin(x/(2n))|,
limn ≥ 1 bn = x.
Damit ist die Kreisaufwicklung längentreu. In der Darstellung z = rei x einer komplexen Zahl in Polarkoordinaten (r, x) ist das Argument x ein Winkel im Bogenmaß, weswegen wir Polarkoordinaten oft in der Form (r, φ) notieren. Die Multiplikation zweier komplexer Zahlen erfolgt nach der geometrischen Multiplikationsregel.
Physikalische Interpretation
Für alle r > 0 modelliert die Funktion f : ℝ → ℝ2 mit
f (t) = r ei t = r (cos t, sin t) für alle t ∈ ℝ
die gleichmäßige Bewegung eines Punktes auf dem Kreis
Kr = { z ∈ ℂ | |z| = r }
gegen den Uhrzeigersinn, der sich zur Zeit t = 0 am Punkt (r, 0) befindet und für einen Umlauf die Zeit 2π benötigt.
Startpunkt, Umlaufrichtung und Umlaufzeit können wir variieren, indem wir
f (t) = r ei (v t + φ0) für alle t ∈ ℝ
setzen, für v, φ0 ∈ ℝ. Der Startpunkt ist nun r (cos(φ0), sin(φ0)) und die Umlaufzeit |2π/v|. Ist v < 0, so verläuft die Bewegung im Uhrzeigersinn. Ist v = 0, so steht der Punkt am Startpunkt still.