Eulers Lösung des Basler Problems

 Wir haben alle Hilfsmittel versammelt, um Eulers Entdeckung der Formel

n ≥ 1 1n2  =  π26

im Jahr 1734 nachzeichnen zu können. Ausgangspunkt ist die Sinusreihe

sin(x)  =  n (−1)n x(2n + 1)(2n + 1)!  =  x  −  x33!  +  x55!  −  x77!  ±  …

und die Idee, eine unendliche Reihe in der Variable x wie ein endliches Polynom zu behandeln: Wir versuchen, sie mit Hilfe ihrer Nullstellen in Linearfaktoren zu zerlegen. Vorab betrachten wir noch einmal einige grundlegende Ergebnisse über Polynome.

 Sei f :    ein normiertes Polynom vom Grad n ≥ 1 mit

f (x)  =  xn  +  an − 1 xn − 1  +  …  +  a1 x  +  a0  für alle x  ∈  .

Hat f die (nicht notwendig paarweise verschiedenen) Nullstellen w1, …, wn, so gilt

f (x)  =  (x − w1) … (x − wn)  für alle x  ∈  .(Zerlegung in Linearfaktoren)

(Durch die Normierung von f benötigen wir keinen Vorfaktor c.)

Sind alle Nullstellen ungleich Null, so gilt

f (x)  =  (−1)n (w1 … wn) (1 − x/w1) … (1 − x/wn)  für alle x  ∈  .

Wir nehmen nun zusätzlich an, dass f (0) = 1. Dann gilt

1  =  f (0)  =  (0 − w1) … (0 − wn)  =  (−1)n w1 … wn.

Damit erhalten wir

(+)  f (x)  =  (1 − xw1) … (1 − xwn)  für alle x  ∈  .

Soweit ist alles elementar. Die Darstellung (+) ist eine Standardmethode, ein Polynom mit den vorgegeben Nullstellen w1, …, wn ≠ 0 zu konstruieren. Sie hat gegenüber der vertrauteren Form (x − w1) … (x − wn) den Vorteil, die Abweichung der Faktoren von der 1 zu betonen. Bei unendlichen Produkten ist eine geringe Abweichung eine notwendige Voraussetzung für die Konvergenz: Damit das Produkt n (1 − xn) konvergiert, müssen die xn hinreichend schnell gegen 0 konvergieren.

 Wir wenden nun diese Überlegungen auf die Sinusreihe an. Genauer verwenden wir den Kardinalsinus si :    mit

si(x)  =  sin(x)x  für x ≠ 0,  si(0)  =  1.

Der oben berechnete Grenzwert limx  0 sin(x)/x = 1 zeigt, dass der Kardinalsinus stetig ist. Er besitzt die für alle x  ∈   gültige Reihen-Darstellung

(++)  si(x)  =  n (−1)n x(2n)(2n + 1)!  =  1  −  x23!  +  x45!  −  x67!  ±  …

Der Kardinalsinus verläuft in durch die Hyperbel 1/x gedämpften Sinuswellen. Seine Nullstellen sind die Zahlen wk = k π für k  ∈  *. Es gilt si(0) = 1. Übertragen wir also die Darstellung (+) ins Unendliche, so erhalten wir

si(x) =  k  ∈  * (1 − xwk)  =  k  ∈  * (1 − xk π)
=  (1 − xπ) (1 + xπ) (1 − x) (1 + x)
=  (1 − x2π2) (1 − x24 π2) (1 − x29 π2)

Im letzten Schritt haben wir die Faktoren paarweise mit Hilfe der dritten binomischen Formel zusammengefasst. Nun multiplizieren wir das unendliche Produkt distributiv aus und sammeln die Koeffizienten bei x2. Einen Koeffizienten bei x2 erhalten wir genau dann, wenn wir an jeder Stelle mit genau einer Ausnahme die 1 wählen. Ein Koeffizientenvergleich mit (++) liefert nun

1π2  −  14 π2  −  19 π2  −  …  −  1n2 π2  +  …  =  − 13!,

und durch Multiplikation mit − π2 erhalten wir unser magisches Ergebnis:

1  +  14  +  19  +  …  +  1n2  +  …  =  π26.

Die Argumentation ist entdeckend, spielerisch, experimentell. Sie lässt sich heute streng rechtfertigen. Ein wesentliches Hilfsmittel ist dabei der Produktsatz von Weierstraß, mit dem sich die Korrektheit der unendlichen Produktdarstellung des Kardinalsinus beweisen lässt. Dieser Satz wurde von Weierstraß erst 1876 gefunden, also mehr als 100 Jahre nach Eulers Argument. Er spielt heute in der Funktionentheorie eine wichtige Rolle.

 Ähnliche Überlegungen führen zur Formel ζ(4) = π4/90 und allgemeiner zu Formeln für die Werte ζ(2n). Wie im Ausblick über das Basler Problem diskutiert, ist über die Werte ζ(2n + 1) wenig bekannt. Gerade der Kontrast mit ζ(3) macht Eulers Ansatz so wirkungsvoll. Wir fühlen uns ja geradezu herausgefordert, die Summe 1 + 1/23 + 1/33 + … 1/n3 + … experimentell zu berechnen.