Gleichmäßige Approximation durch Polynome
Ebenfalls von Weierstraß stammt ein weiterer fundamentaler Satz über gleichmäßige Konvergenz: Ist f eine stetige Funktion, die auf einem kompakten Intervall [ a, b ] definiert ist, so existieren Polynome fn : [ a, b ] → ℝ, die gleichmäßig gegen f konvergieren. Mit Hilfe von ε-Schläuchen lässt sich dieses Ergebnis sehr anschaulich formulieren. Zeichnen wir den Graphen der Funktion f mit einem endlich spitzen Stift oder plotten wir ihn mit endlicher Auflösung (was ja in der Realität immer der Fall ist), so gibt es ein Polynom, das ganz innerhalb des gezeichneten Graphen verläuft.
Während die ersten Beweise von Weierstraß noch recht verwickelt waren, kennt man heute in der Funktionalanalysis sehr kurze abstrakte Beweise allgemeiner Approximationssätze. Von hohem Interesse für den klassischen Fall einer stetigen Funktion f : [ a, b ] → ℝ ist aber die Konstruktion von möglichst einfachen und interessanten Polynomen, die gleichmäßig gegen die Ausgangsfunktion f konvergieren. Dies gelang dem russischen Mathematiker Sergei Bernstein im Jahr 1912, und wir möchten diese berühmte Konstruktion hier vorstellen.
Wir beginnen mit einer Reduktion des Problems. Sei hierzu f : [ a, b ] → ℝ stetig. Wir betrachten die „affine Transformation“ h : [ 0, 1 ] → [ a, b ], die das Intervall [ 0, 1 ] um den Faktor b − a dehnt und um den Wert a nach rechts verschiebt, d. h., es gilt
h(x) = (b − a) x + a für alle x ∈ [ 0, 1 ].
Dann ist g = f ∘ h eine stetige Funktion auf [ 0, 1 ]. Konvergieren nun Polynome gn gleichmäßig auf [ 0, 1 ] gegen g, so konvergieren die Polynome fn = gn ∘ h−1 gleichmäßig auf [ a, b ] gegen f. Es genügt also, den Definitionsbereich [ 0, 1 ] zu betrachten.
Sei also f : [ 0, 1 ] → ℝ eine stetige Funktion. Ein natürlicher Ansatz zur Konstruktion eines n-ten approximierenden Polynoms fn : [ 0, 1 ] → ℝ ist, die Partition (0, 1/(n + 1), 2/(n + 1), …, 1) des Intervalls [ 0, 1 ] und die Funktionswerte f(k/(n + 1)) für 0 ≤ k ≤ n + 1 zu verwenden. Wie man aber fn genau definiert, das ist die Kunst. Bernsteins Konstruktion verwendet die folgenden von der Funktion f vollkommen unabhängigen Polynome:
Definition (Bernsteinsche Basispolynome)
Für alle n und alle k ≤ n definieren wir bn, 0, …, bn, n : [ 0, 1 ] → ℝ durch
bn, k(x) = xk (1 − x)n − k für alle x ∈ [ 0, 1 ].
Die Funktionen bn, 0, …, bn, n heißen die Basispolynome vom Grad n.
Die folgenden Abbildungen geben einen Überblick über die ersten Basispolynome und zeigen die allgemeine Bauart dieser Funktionen.
b0, 0(x) = 1 | ||||
b1, 0(x) = 1 − x | b1, 1(x) = x | |||
b2, 0(x) = (1 − x)2 | b2, 1(x) = 2(1 − x) x | b2, 2(x) = x2 | ||
b3, 0(x) = (1 − x)3 | b3, 1(x) = 3(1 − x)2 x | b3, 2(x) = 3(1 − x) x2 | b3, 3(x) = x3 | |
b4, 0(x) = (1 − x)4 | b4, 1(x) = 4(1 − x)3 x | b4, 2(x) = 6(1 − x)2 x2 | b4, 3(x) = 4(1 − x) x3 | b4, 4(x) = x4 |
Die Basispolynome erhält man, wenn man im binomischen Lehrsatz
(x + y)n = ∑k ≤ n xk yn − k
y = 1 − x setzt. Damit gilt für alle x ∈ [ 0, 1 ]:
∑k ≤ n bn, k(x) = ∑k ≤ n xk (1 − x)n − k = (x + (1 − x))n = 1.
Für jedes n sind also die n + 1 Basispolynome b0, n, …, bn, n vom Grad n eine additive Zerlegung der Eins-Funktion auf [ 0, 1 ].
Wir definieren nun:
Definition (Bernstein-Polynome für f)
Sei f : [ 0, 1 ] → ℝ eine stetige Funktion. Dann definieren wir:
B0(f)(x) = b0, 0(x) = 1 | für alle x ∈ [ 0, 1 ], |
Bn(f)(x) = ∑k ≤ n f (k/n) bn, k(x) | für alle n ≥ 1 und x ∈ [ 0, 1 ]. |
Die Funktion Bn(f) : [ 0, 1 ] → ℝ heißt das Bernstein-Polynom für f vom Grad n.
Wichtige allgemeine Eigenschaften und einige konkrete Bernstein-Polynome versammeln die beiden folgenden Sätze.
Satz (elementare Eigenschaften der Bernstein-Polynome)
Für alle stetigen f, g : [ 0, 1 ] → ℝ, alle n ≥ 1 und alle a, b ∈ ℝ gilt:
(B1) Bn(af + bg) = a Bn(f) + b Bn(g), (Linearität)
(B2) Bn(f) ≤ Bn(g), falls f ≤ g, (Monotonie)
(B3) |Bn(f)| ≤ Bn(g), falls |f| ≤ g. (Monotonie im Betrag)
Satz (Bernstein-Polynome für einfache Funktionen)
Für alle c ∈ ℝ und p ∈ [ 0, 1 ] gilt:
(B4) Bn(constc) = constc,
(B5) Bn(id) = id,
(B6) Bn(quad)(x) = x2 + x (1 − x)/n, | wobei quad(x) = x2, |
(B7) Bn(quadp)(x) = x2 + x (1 − x)/n − 2xp + p2, | wobei quadp(x) = (x − p)2. |
Der Beweis dieser Eigenschaften sei dem Leser überlassen.
Der folgende Beweis des Approximationssatzes benutzt nur die Eigenschaften (B1) − (B7). Die konkrete Definition der Bernstein-Polynome für f wird nicht verwendet.
Satz (Approximationssatz von Weierstraß-Bernstein)
Sei f : [ 0, 1 ] → ℝ eine stetige Funktion. Dann gilt
f = limn → ∞ Bn(f) (gleichmäßig).
Beweis
Wir zeigen, dass limn ∥ Bn(f) − f ∥ = 0. Sei hierzu ε > 0. Da f gleichmäßig stetig ist, gibt es ein δ > 0, sodass für alle x, y ∈ [ 0, 1 ] gilt
|x − y| < δ impliziert |f (x) − f (y)| < ε/2.
Wir setzen nun
c = 2 ∥ f ∥δ2.
Dann gilt:
(+) |f (x) − f (p)| ≤ c quadp(x) + ε/2 für alle x, p ∈ [ 0, 1 ].
Beweis von (+)
Seien x, p ∈ [ 0, 1 ]. Ist |x − p| < δ, so ist
|f (x) − f (p)| < ε/2 ≤ c quadp(x) + ε/2.
Ist |x − p| ≥ δ, so gilt nach Definition von c, dass
|f (x) − f (p)| ≤ 2 ∥ f ∥ = c δ2 ≤ c (x − p)2 ≤ c quadp(x) + ε/2.
Sei nun x ∈ [ 0, 1 ] und n ≥ 1. Wir zeigen:
(++) | Bn(f)(x) − f (x) | ≤ c/n + ε/2.
Dann gilt ∥ Bn(f) − f ∥ < ε für alle n ≥ 2 c/ε, woraus die Behauptung folgt.
Beweis von (++)
Für jedes p ∈ [ 0, 1 ] gilt:
| Bn(f)(x) − f (p)| = (B1, B4) | Bn(f − constf (p))(x) |
≤ (+), (B3) Bn(c quadp + constε/2)(x)
= (B1), (B4), (B7) c (x2 + x (1 − x)/n − 2p x + p2) + ε/2
≤ x ∈ [ 0, 1 ] c (x2 + 1/n − 2p x + p2) + ε/2.
Aus der Wahl von p = x folgt die Behauptung.
Die Diagramme zeigen einige Bernstein-Polynome für die Quadratfunktion quad mit
quad(x) = x2,
die siebte Wurzelfunktion f mit
f (x) = 7
und die Zackenfunktion g mit
g(x) = 4 ||x − 1/2| − 1/4|
für alle x ∈ [ 0, 1 ].
Die Konvergenz der Bernstein-Polynome Bn(f) gegen f ist zwar gleichmäßig, aber im Allgemeinen sehr langsam, weshalb diese Polynome für die effektive Approximation von Funktionen keine wichtige Rolle spielen. Dennoch sind sie in Anwendungen bedeutsam. Hierzu beobachten wir, dass in der Definition von Bn(f) nicht die ganze Funktion f, sondern nur die n + 1 Werte f (k/n) verwendet werden. Geben wir zum Beispiel für n = 6 die Funktionswerte
x | 0 | 1/6 | 2/6 | 3/6 | 4/6 | 5/6 | 1 |
y | 5/10 | 1/10 | 9/10 | 7/10 | 3/10 | 1/10 | 3/10 |
vor, so liefert die Definition von B6 mit diesen Werten anstelle von f (k/6) ein Polynom, das durch den ersten und letzten Wert verläuft und die anderen Werte als „Orientierung“ verwendet. Im folgenden Diagramm ist B6 für die Werte der Tabelle dargestellt, im zweiten Diagramm B6 für die etwas modifizierten Werte:
x | 0 | 1/6 | 2/6 | 3/6 | 4/6 | 5/6 | 1 |
y | 5/10 | 0 | 8/10 | 8/10 | 3/10 | 2/10 | 3/10 |
Die vorgegebenen Punkte „ziehen“ die Funktion zu sich heran.
Bernstein-Polynome sechsten Grades für vorgegebene Werte
Eine Ausarbeitung dieser Überlegungen hat der französische Ingenieur Pierre Bézier in den 1960er Jahren durchgeführt. Die heute nach ihm benannten Bézier-Kurven beruhen auf den Bernstein-Polynomen. Sie sind zur Konstruktion von Autos, in der Computer-Graphik, in der Typographie und in vielen anderen Bereichen eingesetzt worden.