Ausblick:  Stetige nirgends differenzierbare Funktionen

 Die Betragsfunktion abs :    ist ein einfaches Beispiel für eine stetige nicht differenzierbare Funktion. Die Funktion hat einen „Knick“ im Nullpunkt und ist dort nicht differenzierbar. In allen anderen Punkten ist sie jedoch differenzierbar. Daneben verletzen unendliche Steigungen die Differenzierbarkeit, wie sie etwa bei der zweiten oder dritten Wurzelfunktion im Nullpunkt auftreten. Zeichnen wir einfache stetige Funktionen, so können wir vermuten, dass bis auf vereinzelte Ausnahmestellen jede stetige Funktion überall differenzierbar ist. Diese bis ins späte 19. Jahrhundert von vielen Mathematikern geteilte Anschauung ist jedoch falsch. Es gibt sogar stetige Funktionen, die in keinem einzigen Punkt differenzierbar sind. Die erste derartige Funktion wurde von Bolzano um 1830 entdeckt. Allgemein bekannt wurden aber erst die folgenden von Weierstraß in den 1870er Jahren untersuchten Funktionen:

Definition (Weierstraß-Funktion)

Eine Weierstraß-Funktion ist eine Funktion der Form f :    mit

f (x)  =  n an cos(bn π x) für alle x  ∈  ,

für gewisse reelle Konstanten a, b mit a  ∈  ] 0, 1 [, b  >  1, a b  ≥  1.

 Man kann zeigen:

Satz (Satz von Weierstraß-Hardy)

Jede Weierstraß-Funktion ist stetig und nirgendwo differenzierbar.

 Weierstraß hatte diesen Satz für a  ∈  ] 0, 1 [ und ungerade Zahlen b > 1 mit

a b  >  1 + 3π/2

bewiesen. Die Verallgemeinerung auf beliebige reelle b mit b > 1 und a b ≥ 1 gelang Gotfrey Harold Hardy im Jahr 1916. Zuvor wurden andersartige Funktionen konstruiert, die stetige Funktionen, die „überall zittern“, rekursiv mit Hilfe von Zackenfunktionen aufbauen. Die folgende Funktion stammt von dem japanischen Mathematiker Teiji Takagi aus dem Jahr 1903. Eine ähnliche Konstruktion wurde unabhängig auch von Bartel van der Waerden 1930 durchgeführt.

Definition (Takagi-Funktion)

Sei g :    die Funktion mit

g(x)  =  mina  ∈   |x  −  a|  für alle x  ∈  .

Dann ist die Takagi-Funktion f :    definiert durch

f (x)  =  n g(2n x)2n  für alle x  ∈  .

 Die Zackenfunktion g misst den Abstand einer reellen Zahl von den ganzen Zahlen , und die Takagi-Funktion ist die unendliche Summe von gestauchten und skalierten Funktionen g.

 Auch hier gilt wieder:

Satz (über die Takagi-Funktion)

Die Takagi-Funktion ist stetig und in keinem p  ∈   differenzierbar.

 Die folgenden Diagramme illustrieren den Aufbau einer typischen Weierstraß-Funktion (mit a = 1/2 und b = 3) und der Takagi-Funktion.

analysis1-AbbID131a
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analysis1-AbbID131d
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fn(x)  =  k ≤ n cos(3k π x)2k für alle x.

Gestrichelt gezeigt ist zudem der letzte Summand cos(3n π x)2n.

analysis1-AbbID132a

f0 = g

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f1

analysis1-AbbID132c

f2

analysis1-AbbID132d

f3

analysis1-AbbID132e

f4

analysis1-AbbID132f

f5

fn(x)  =  k ≤ n g(2k x)2k für alle x, zusammen mit dem letzten Summanden  g(2n x)2n.

analysis1-AbbID132g

Ersetzen wir im Nenner die 2 durch eine 4, so konvergiert die Summe gegen eine Parabel. Die Konstruktion entspricht der klassischen Quadratur der Parabel: Archimedes zeigte damit, dass die Fläche des Parabelsegments im Diagramm 4/3 der Fläche des Dreiecks gleicher Höhe ist.

 Die stetigen nirgendwo differenzierbaren Funktionen trugen nicht nur zum vertieften Verständnis des Stetigkeitsbegriffs bei, sondern sie spielen auch in der modernen Mathematik eine wichtige Rolle. In der Wahrscheinlichkeitstheorie studiert werden Brownsche Bewegungen studiert, die die Zitterbewegung eines Teilchens in einer Flüssigkeit oder auch Aktienkurse modellieren. Hier sind stetige Funktionen, die nirgendwo differenzierbar sind, die Regel und nicht die Ausnahme. Auch in der Chaos-Theorie tauchen Konstruktionen des obigen Typs auf. Die Weierstraß-Funktionen können als die ersten Fraktale bezeichnet werden.