Der Satz von Rolle und der Mittelwertsatz

 Im Nullstellensatz haben wir unterschiedliche Vorzeichen der Ableitung in den Randpunkten eines kompakten Intervalls [ a, b ] verwendet, um die Existenz eines Extremums im Inneren ] a, b [ des Intervalls zu erzwingen. Die ebenso einfache wie geistreiche Voraussetzung des folgenden Satzes leistet das Gleiche:

Satz (Satz von Rolle)

Sei f : [ a, b ]  , a < b, stetig, in ] a, b [ differenzierbar, und es gelte f (a) = f (b). Dann nimmt f ihr Maximum oder Minimum an einer Stelle p  ∈  ] a, b [ an. Insbesondere existiert ein kritischer Punkt p  ∈  ] a, b [ von f.

Beweis

Die stetige Funktion f : [ a, b ]   nehme ihr Maximum in p1  ∈  [ a, b ] und ihr Minimum in p2  ∈  [ a, b ] an.

Gilt f (p1) = f (p2), so ist f konstant und f ′ = 0. Jedes p  ∈  ] a, b [ ist kritisch.

Gilt f (p1) ≠ f (p2), so gilt p1  ∈  ] a, b [ oder p2  ∈  ] a, b [ (da f (a) = f (b) gilt, können nicht beide Stellen p1, p2 Randpunkte des Definitionsbereichs sein). Dann gilt aber f ′(p1) = 0 oder f ′(p2) = 0.

 Der Satz geht auf den französischen Mathematiker Michel Rolle zurück. (Das „e“ in „Rolle“ wird nicht gesprochen.) Anschaulich formuliert lautet das Ergebnis: Beginnt und endet ein Höhenweg mit dem gleichen Wert f (a) = f (b), so ist er entweder ein ebener Spaziergang oder er erreicht sein von f (a) und f (b) verschiedenes Minimum oder Maximum, und dort ist die Steigung 0. Der Weg muss in den Randpunkten nicht einmal differenzierbar sein.

 Aus dem Satz von Rolle folgt, dass zwischen zwei Nullstellen einer differenzierbaren Funktion stets eine Nullstelle der Ableitung liegt. Ist f zweimal differenzierbar, so liegen zwischen drei Nullstellen der Funktion zwei Nullstellen der ersten Ableitung und damit eine Nullstelle der zweiten Ableitung usw.

Beispiele

(1)

Die Funktion f : [ 0, 2π ]   mit f (x) = sin(x) für alle x  ∈  [ 0, 2π ] nimmt ihr Maximum in p1 = π/2 und ihr Minimum in p2 = 3π/2 an. Beide Stellen sind kritische Punkte von f in ] 0, 2π [.

(2)

Sei f : [ −1, 1 ]   mit f (x) = x2 für alle x  ∈  [ −1, 1 ]. Dann nimmt f ihr Maximum an den Randpunkten −1 und 1 an. Das Minimum wird im Nullpunkt angenommen, und der Nullpunkt ist ein kritischer Punkt im Inneren von [ −1, 1 ].

 Der folgende fundamentale Satz verallgemeinert den Satz von Rolle so, wie der Zwischenwertsatz den Nullstellensatz für stetige Funktionen verallgemeinert:

Satz (Mittelwertsatz der Differentialrechnung von Lagrange)

Sei f : [ a, b ]  , a < b, stetig und in ] a, b [ differenzierbar. Dann existiert ein p  ∈  ] a, b [ mit

f ′(p)  =  f (b)  −  f (a)b  −  a.

Beweis

Wir definieren g : [ a, b ]   durch

g(x)  =  f (x)  −  f (b)  −  f (a)b  −  a(x  −  a)  für alle x  ∈  [ a, b ].

Dann ist g differenzierbar in ] a, b [ und es gilt g(a) = f (a) = g(b). Nach dem Satz von Rolle gibt es also ein p  ∈  ] a, b [ mit g′(p) = 0. Dann gilt aber

f ′(p)  =  g′(p)  +  f (b)  −  f (a)b  −  a  =  f (b)  −  f (a)b  −  a.

 Der Quotient (f (b) − f (a))/(b − a) ist die mittlere Steigung der Funktion f auf dem Intervall [ a, b ]. Der Mittelwertsatz bezieht aus dieser Beobachtung seinen Namen, denn er besagt, dass eine differenzierbare Funktion auf einem kompakten Intervall in einem gewissen Punkt eine Steigung besitzt, die mit der mittleren Steigung der Funktion übereinstimmt.

Beispiel

Sei f : [ 0, 1 ]   mit f (x) = x3 für alle x  ∈  [ 0, 1 ]. Die mittlere Steigung von f ist gleich 1 (da (f (1) − f (0))/(1 − 0) = 1). Diese Steigung wird von f ′ an der Stelle p = 1/3 angenommen (da f ′(x) = 3x2 für alle x  ∈  [ 0, 1 ]).

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Die Funktion f nimmt ihre mittlere Steigung im Punkt p an.

 Der Mittelwertsatz lässt sich prägnant so formulieren:

Ein Differenzenquotient ist ein Differentialquotient an einer Zwischenstelle.

 Wir betrachten nun einige Anwendungen des Mittelwertsatzes.