Der Satz von Taylor

 Zur genaueren Untersuchung der Restfunktionen rn = f − Tnpf beweisen wir eine Verallgemeinerung des Satzes von Rolle:

Satz (Satz von Rolle, Variante für mehrfach differenzierbare Funktionen)

Sei g : [ a, b ]   n-mal stetig differenzierbar in [ a, b ] und (n + 1)-mal differenzierbar in ] a, b [ für ein n ≥ 0. Es gelte

g(0)(a)  =  g(1)(a)  =  …  =  g(n)(a)  =  g(b)  =  0.

Dann existiert ein p  ∈  ] a, b [ mit g(n + 1)(p) = 0. Gleiches gilt, falls

g(a) = g(0)(b) = … = g(n)(b) = 0.

Beweis

Wir zeigen die erste Behauptung durch Induktion nach n. (Die zweite Behauptung wird analog bewiesen.)

Induktionsanfang n = 0

Die Aussage des Satzes ist für n = 0 identisch mit dem Satz von Rolle (wobei „0-mal stetig differenzierbar“ wie üblich „stetig“ bedeutet).

Induktionsschritt von n nach n + 1

Nach Induktionsvoraussetzung gibt es ein q  ∈  ] a, b [ mit

g(n + 1)(q)  =  0.

Wir wenden nun den Satz von Rolle auf die Funktion g(n + 1) auf [ a, q ] an und erhalten ein p  ∈  ] a, q [ mit

g(n + 2)(p)  =  g(n + 1)′(p)  =  0.

analysis1-AbbID172

Illustration zum allgemeinen Satz von Rolle für

g : [ 0, 2 ]  

mit

g(x) = x4 (x − 2)10.

Die Funktion g ist am linken Randpunkt „flach“.

 Damit können wir nun relativ leicht zeigen:

Satz (Satz von Taylor, Lagrangesche Form des Restglieds)

Sei I ein Intervall, und sei f : I   (n + 1)-mal stetig differenzierbar. Weiter sei p  ∈  I. Dann gibt es für alle x  ∈  I − { p } ein ξ zwischen p und x mit

(+)  f (x)  =  Tnp f (x)  +  f (n + 1)(ξ)(n + 1)!(x − p)n + 1.

Allgemeiner genügt für ein Punktepaar p < x die Voraussetzung

„n-mal stetig differenzierbar in [ p, x ] und (n + 1)-mal differenzierbar in ] p, x [“.

Analoges gilt für x < p.

 Bei (n + 1)-maliger stetiger Differenzierbarkeit ist f (n + 1) in einer Umgebung von p beschränkt. Wir können dann die klein-o-Darstellung des Satzes von Peano verstärken zur groß-O-Darstellung

f (x)  =  Tnp f (x)  +  O((x − p)n + 1)  für  x  p.

Dabei steht allgemein „O(g(x)) für x  p“ für eine Funktion r : P  , die in einer Umgebung von p bis auf eine Konstante beschränkt durch |g(x)| ist, d. h., es gibt ein ε > 0 und ein c > 0, sodass |r(x)| ≤ c |g(x)| für alle x  ∈  P ∩ Uε(p).

 Der zweite Summand auf der rechten Seite in (+), der die Differenz zwischen der Funktion und ihrer Taylor-Approximation n-ter Ordnung angibt, heißt das Lagrangesche Restglied der Ordnung n + 1. In der „Analysis 2“ werden wir eine weitere Darstellung des Restglieds mit Hilfe von Integralen kennenlernen.

Beweis

Sei x  ∈  I, x ≠ p. Wir nehmen x > p an. Der andere Fall wird analog behandelt. Wir definieren g : [ p, x ]   durch

g(y)  =  f (y)  −  Tnp f (y)  −  (f (x)  −  Tnpf (x)) (y  −  px  −  p)n + 1.

Dann gilt g(x) = 0 und wegen f (k)(p) = (Tnp f)(k)(p) für alle k ≤ n auch

g(0)(p)  =  …  =  g(n)(p)  =  0.

Nach dem Satz von Rolle gibt es also ein ξ  ∈  ] p, x [ mit g(n + 1)(ξ) = 0.

Wegen (Tnp f)(n + 1) = 0 ist dann aber

0  =  f (n + 1)(ξ)  −  (f (x)  −  Tnpf (x)) (n + 1)!(x − p)n + 1.

 Um die abgeschwächte Voraussetzung schmackhafter zu machen, bemerken wir, dass der Satz von Taylor unter dieser Voraussetzung den Mittelwertsatz der Differentialrechnung verallgemeinert. Denn er liefert für eine stetige und in ] p, x [ differenzierbare Funktion f : [ p, x ]   die Darstellung

f (x)  =  f (p)  +  f ′(ξ) (x − p)  mit einem ξ  ∈  ] p, x [.

Restgliedabschätzung für Kosinus und Sinus

 Der Satz von Taylor liefert gute Abschätzungen für das Restglied, wenn gute Schranken für die Ableitungen der betrachteten Funktion bekannt sind. Dies ist zum Beispiel für den Sinus und den Kosinus der Fall.

Satz (Taylor-Approximation des Kosinus und Sinus, Restgliedabschätzung)

Für alle n und x  ∈   gilt:

(a)

| cos x  −  k ≤ n (−1)k x2k(2k)! |  ≤  |x|2n + 2(2n + 2)!,

(b)

| sin x  −  k ≤ n (−1)k x2k + 1(2k + 1)! |  ≤  |x|2n + 3(2n + 3)!.

Beweis

Alle Ableitungen des Kosinus sind beschränkt durch 1. Damit gilt nach dem Satz von Taylor für alle n (mit f = cos und p = 0):

| cos(x)  −  T2n + 10 cos(x) |  ≤  | 1(2n + 1 + 1)!(x − 0)2n + 1 + 1 | .

Dies zeigt (a). Die Abschätzung für den Sinus wird analog bewiesen.

analysis1-AbbID173

Die Abschätzungen des Satzes sind recht scharf: Die Abbildungen zeigen die linke Seite fn und die rechte Seite gn der Ungleichung (a) für einige n.

Fehlerabschätzung für das Newton-Verfahren

 Mit Hilfe des Satzes von Taylor können wir die hohe Konvergenzgeschwindigkeit des Newton-Verfahrens beweisen:

Satz (Fehlerabschätzung für das Newton-Verfahren)

Sei f : [ p, x0 ]   zweimal stetig differenzierbar und konvex mit f (p) = 0, f (x0) > 0 und amin = f ′(p) > 0. Dann gilt für die monoton fallend gegen p konvergierende Newton-Iteration (xn)n  ∈   für den Startpunkt x0:

xn  −  xn + 1  ≤  xn  −  p  ≤  cmax2 amin (xn − 1  −  xn)2  für alle n ≥ 1,

wobei cmax  =  maxx  ∈  [ p, x0 ] f ″(x).

Beweis

Sei n ≥ 1. Die erste Ungleichung folgt aus p ≤ xn + 1 ≤ xn. Die zweite Ungleichung ist klar für xn = p. Sei also p < xn (und damit auch xn < xn − 1). Aufgrund der Konvexität von f ist f ′ monoton steigend, also ist

amin  =  minx  ∈  [ p, x0 ] f ′(x).

Damit ist amin (x − p) ≤ f (x) für alle x  ∈  [ p, x0 ], speziell gilt also

xn  −  p  ≤  f (xn)amin.

Es genügt also zu zeigen:

(+)  f (xn)  ≤  cmax2 (xn − 1 − xn)2.

Beweis von (+)

Nach dem Satz von Taylor für f und den Entwicklungspunkt xn − 1 existiert ein ξ zwischen xn und xn − 1 mit

f (xn)  =  f(xn − 1)  +  f ′(xn − 1) (xn − xn − 1)  +  f ″(ξ)2  (xn − xn − 1)2.

Nach der Rekursionsgleichung der Newton-Iteration gilt aber

xn  =  xn − 1  −  f (xn − 1)f ′(xn − 1),

und damit ist

f (xn)  =  0  +  f ″(ξ)2  (xn − xn − 1)2  ≤  cmax2 (xn − 1 − xn)2.

 Um ein Gefühl für die quadratische Konvergenzgeschwindigkeit des Verfahrens zu bekommen, nehmen wir an, dass

cmax  ≤  2 amin,

und dass wir die Rekursion soweit durchgeführt haben, dass xn − 1 − xn < 1/10. Dann gilt nach der zweiten Ungleichung

xn  −  p  ≤  1 · (xn − 1  −  xn)2  ≤  1102  =  1100.

Nach der ersten Ungleichung gilt xn − xn + 1 ≤ xn − p, sodass xn − xn + 1 < 1/100. Mit der Argumentation wie eben folgt, dass

xn + 1  −  p  ≤  1(100)2  =  1104.

Im nächsten Schritt erhalten wir xn + 2 − p < 1/108 usw.