Ausblick:  Der Satz von Peano-Borel

 Im Gegenbeispiel von Cauchy konvergiert die Taylor-Reihe von f zwar nur im Entwicklungspunkt 0 gegen f, aber ihr Konvergenzbereich ist ganz  (vgl. 4. 6). Folgende Frage ist noch unbeantwortet:

Konvergiert Tp f (x) immer in einer Umgebung von p?

Auch hier ist die Antwort negativ. Es gibt eine glatte Funktion f :   , deren Taylor-Reihe T0 f nur im Nullpunkt konvergiert. Eine derartige Funktion wurde zuerst von Paul du Bois-Reymond 1876 konstruiert. Stärker gilt der folgende bemerkenswerte Satz von Peano (1884) und Émile Borel (1893):

Satz (Satz von Peano-Borel, vorgeschriebene Ableitungen)

Sei (cn)n  ∈   eine Folge in . Dann existiert eine glatte Funktion f :    mit

f (n)(0)  =  cn  für alle n.

 Bevor wir einen Beweis skizzieren, halten wir einige Folgerungen fest.

Korollar (jede Potenzreihe ist eine Taylor-Reihe)

Sei (an)n  ∈   eine Folge in . Dann gibt es eine glatte Funktion f :    mit

T0f  =  n an xn.

Beweis

Wir setzen cn = an n! für alle n. Ist nun f :    wie im Satz von Peano-Borel für die Folge (cn)n  ∈  , so gilt

T0f (x)  =  n f (n)(0)n! xn  =  n cnn! xn  =  n an xn.

Korollar (einpunktige Konvergenzbereiche für Taylor-Reihen)

Es gibt eine glatte Funktion f :   , deren Taylor-Reihe T0 f (x) in allen x ≠ 0 divergiert.

Beweis

Nach dem letzten Korollar genügt es, irgendeine in allen Punkten x ≠ 0 divergente Potenzreihe n an xn anzugeben. Dies ist zum Beispiel für n nn xn oder n n! xn der Fall.

 Wir skizzieren eine auf Peano zurückgehende Konstruktion einer Funktion mit vorgeschriebenen Ableitungen. Dabei folgen wir der Darstellung in „Peano’s unnoticed proof of Borel’s theorem“ von Ádám Besenyei (2014). Der Leser findet dort einen vollständigen Beweis.

Beweis des Satzes von Peano-Borel (Skizze)

Wir betrachten folgenden Ansatz, mit noch unbekannten Koeffizienten ak:

f (x)  =  k ≥ 0 ak xk1  +  bk x2,  wobei bk = |ak|(k!)2 für alle k.

Die Idee ist, die ak so zu wählen, dass f die gewünschten Ableitungen an der Stelle 0 besitzt, d. h., f (n)(0) = cn für alle n. Die schnell wachsenden Nenner stellen sicher, dass f konvergiert und unendlich oft gliedweise differenzierbar ist. Zur Ermittlung der an berechnen wir die n-fachen Ableitungen

dk, n  =  dndxn ak xk1  +  bk x2  (0)  für alle k, n ≥ 0.

Dies ist vergleichsweise einfach möglich, wenn wir die geometrische Reihe verwenden. Für alle k und alle x mit bk x2 < 1 gilt

ak xk1  +  bk x2   =  ak xkj ≥ 0 (− 1)j (bk x2)j  =  ak j ≥ 0 (−1)j bkj xk + 2j.

Gliedweises Differenzieren zeigt nun, dass für alle k und n gilt:

dn,k=n!(1)jakbkjfalls n=k+2jfüreinj00sonst.

Für jedes gerade n sind also nur dn, n, dn, n − 2, …, dn, 0 von Null verschieden und für jedes ungerade n nur dn, n, dn, n − 2, …, dn, 1. Zudem gilt dn, n = n! an. Unter der Voraussetzung der Konvergenz und unendlichen gliedweisen Differenzierbarkeit von f gilt also für alle n:

(+)  f (n)(0)n!  =  0 ≤ j ≤ n/2 dn, n − 2j  =  an  +  1 ≤ j ≤ n/2 (−1)j an − 2j (bn − 2j)j

Wir setzen nun a0 = c0, a1 = c1 und definieren an für n ≥ 2 rekursiv derart, dass die rechte Seite von (+) für alle n gleich cn/n! wird. Damit ist f definiert. Der Rest des Beweises besteht im Nachweis der Konvergenz und unendlichen gliedweisen Differenzierbarkeit von f.

analysis1-AbbID189

 Wir betrachten die im Beweis konstruierte Funktion f für die vorgegebenen Ableitungen

f (n)(0)  =  cn  =  nn n!

analysis1-AbbID190a
analysis1-AbbID190b
analysis1-AbbID190c
analysis1-AbbID190d

 Die graphisch scheinbar harmlose Funktion f offenbart durch wiederholtes Ableiten ihre wahre Komplexität. Die zugehörige Taylor-Reihe

T0f (x)  =  n nnxn

konvergiert nur für x = 0. Steht dies nicht im Widerspruch zum Satz von Peano? Für die Taylor-Polynome von f gelten − wie immer − die durch die o-Notation eingefangenen lokalen Approximationseigenschaften. Aber die Bereiche, in denen die Taylor-Polynome f gut approximieren, ziehen sich, im Gegensatz zu den „üblichen“ Beispielen, auf den Nullpunkt zusammen. Das folgende Diagramm visualisiert diese Tatsache. Alles ist konsistent.

analysis1-AbbID191

noch einmal die Funktion f der Konstruktion wie oben zusammen mit einigen Taylor-Polynomen

fn  =  Tn0f (x)  =  k ≤ n ckk!  xk  =  k ≤ n nnxn