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Die Dezimaldarstellung reeller Zahlen, I

 Wir besprechen nun die Einführung der vertrauten Dezimaldarstellung reeller Zahlen auf der Grundlage unserer axiomatischen Beschreibung genauer. Im Kapitel über Ordnungseigenschaften hatten wir die beiden wesentlichen Schritte hierzu bereits vorgestellt:

1. Schritt: Endliche Dezimaldarstellungen

Für n  ∈   und d1, …, dk  ∈  { 0, …, 9 } setzen wir

n, d1 … dk  =  n  +  1 ≤ i ≤ k di/10i

Im Folgenden bedeutet n, d1 … dk erneut sowohl einen Wert (in ) als auch einen Ausdruck.

 Oft wird statt des trennenden Kommas auch ein Punkt verwendet. Dies ist insbesondere dann nützlich, wenn Dezimalbrüche in einer Menge auftauchen, etwa in { 0.2, 1.45, 3.15 }. Alternativ kann man hier { 0,2 ; 1,45 ; 3,15 } schreiben.

Ergänzungsübung 1

Zeigen Sie, dass stets gilt:  n  ≤  n, d1 … dk  ≤  n, d1 … dk + 1  ≤  n + 1.

Ergänzungsübung 2

Sei q  ∈   mit q ≥ 0. Zeigen Sie, dass q genau dann eine endliche Dezimaldarstellung besitzt, wenn es n, k, m  ∈   gibt mit

q  =  n2k 5m.

2. Schritt: Unendliche Dezimaldarstellungen

 Für n  ∈   und d1, d2, d3, …  ∈  { 0, …, 9 } setzen wir

n, d1 d2 d3 …  =  sup({ n, d1… dk | k ≥ 1 }).

Zur Definition des unendlichen Dezimalbruchs n, d1 d2 d3 …wird entscheidend das Vollständigkeitsaxiom verwendet. Die Menge des Supremums ist nichtleer und nach oben beschränlkt durch n + 1.

 Wir wollen nun zeigen, dass jede Zahl x wenigstens eine Dezimaldarstellung besitzt. Sei hierzu x ≥ 0 eine reelle Zahl. Weiter sei n die größte natürliche Zahl, die kleinergleich x ist. Wir definieren nun rekursiv natürliche Zahlen dk für alle k ≥ 1 durch:

d1  =  „das größte d  ∈  { 0, …, 9 } mit  n, d  ≤  x“,

dk + 1  =  „das größte d  ∈  { 0, …, 9 } mit n, d1 … dk d  ≤  x“.

Die Idee ist, dass jeder Dezimalbruch n, d1 … dk die im Rahmen der k-stelligen Dezimalbrüche bestmögliche Annäherung von unten an die reelle Zahl x ist. Wie erhofft klafft zwischen allen endlichen Approximationen und x dann keine Lücke:

Ergänzungsübung 3

Zeigen Sie, dass x = sup { n, d1 … dk | k ≥ 1 }.

[ Sei xk = n, d1 … dk für alle k ≥ 1. Dann gilt

x1 ≤ x2 ≤ … ≤ xk ≤ … ≤ x.

Weiter gilt x − xk ≤ 10−k für alle k ≥ 1 nach Konstruktion. Zudem ist

inf ({ 10−k | k ≥ 1 }) = 0. ]

 Damit haben wir bewiesen, dass jede reelle Zahl x eine Dezimaldarstellung der Form

x  =  ± n, d1 d2 d3 …

besitzt. Dabei haben wir die Archimedische Anordnung der reellen Zahlen benutzt, also eine Folgerung des Vollständigkeitsaxioms.

 Die Dezimalbruchentwicklung einer reellen Zahl ist nicht immer eindeutig, denn es gilt zum Beispiel

1,0000…  =  1  =  sup { 0.9, 0.99, 0.999, … }  =  0,999…,

0,2100…  =  0,21  =  sup { 0.2, 0.209, 0.2099, 0.20999, … }  =  0,20999…

Bei den zweiten Identitäten verwenden wir die Archimedischen Anordnung, bei den dritten die Definition eines unendlichen Dezimalbruchs.

 Das Phänomen der Nichteindeutigkeit lässt sich durch eine geometrische Interpretation der Dezimalbruchentwicklung, die ganz ohne Rechnung auskommt, weiter beleuchten:

Ergänzungsübung 4

Interpretieren Sie die Dezimaldarstellung einer reellen Zahl x  ∈  [ 0, 1 ], indem Sie x durch wiederholte gleichmäßige 10-Teilung abgeschlossener Intervalle immer genauer lokalisieren. Fertigen Sie hierzu eine geeignete Skizze an. Erklären Sie anhand der Skizze, warum es zu nichteindeutigen Darstellungen kommt, und identifizieren Sie die entsprechenden Punkte.

[ Trifft x auf einen der Unterteilungspunkte, so können wir x entweder im linken oder im rechten angrenzenden Intervall lokalisieren und erhalten dadurch zwei verschiedene Darstellungen. ]

b-adische Darstellungen

 Allgemeiner kann man statt der Basis 10 eine beliebige natürliche Basis b ≥ 2 festlegen. Für n  ∈   und a1, …, ak  ∈  { 0, …, b − 1 } definieren wir zunächst die endlichen b-adischen Brüche durch

n, a1 … ak  =  n  +  a1/b  +  a2/b2  +  …  +  ak/bk  =  n  +  1 ≤ i ≤ k ai/bi.

Nun können wir die unendlichen b-adischen Brüche n, a1 a2 a3 definierend durch

n, a1 a2 …  =  sup({ n, a1 … ak | k ≥ 1 }).

Im Fall b = 2 spricht man auch von Dualdarstellungen und dyadischen Brüchen.

 Zur Unterscheidung und Spezifizierung der verwendeten Basis b verwenden wir Notationen wie (n, a1 … ak)10 (für b = 10) oder (0,10101)3 (für b = 3).

 Diese Ausführungen mögen an dieser Stelle genügen. Sobald wir unendliche Reihen zur Verfügung haben, werden wir auf die unendlichen Dezimaldarstellungen noch einmal zurückkommen. Es ist dann zum Beispiel leicht zu sehen, dass die rationalen Zahlen durch periodische Dezimaldarstellungen charakterisiert sind.

Von den Dezimaldarstellungen zu den Struktureigenschaften

 Wir haben gesehen, wie wir die Dezimaldarstellung reeller Zahlen aus den Axiomen für die reellen Zahlen gewinnen können. Umgekehrt ist es instruktiv, die wesentlichen Struktureigenschaften der reellen Zahlen mit Hilfe einer nicht weiter hinterfragten Dezimaldarstellung − die ja zweifellos eine Stütze des Vorwissens darstellt − zu begründen. So kann man zum Beispiel mit Hilfe der Dezimaldarstellung leicht sehen, dass die rationalen Zahlen dicht in den reellen Zahlen liegen:

Ergänzungsübung 5

Zeigen Sie mit Hilfe von Dezimaldarstellungen, dass  dicht in  ist und dass also  Archimedisch angeordnet ist.

[ Ist 0 < x < y und y = n, d1 d2 d3 …, so ist y das Supremum der rationalen Zahlen n, d1 … dk, k ≥ 1. ]

 Stärker lässt sich auch das Vollständigkeitsaxiom mit Hilfe von Dezimaldarstellungen beweisen:

Ergänzungsübung 6

Zeigen Sie mit Hilfe von Dezimaldarstellungen, dass jede beschränkte nichtleere Teilmenge von  ein Supremum und ein Infimum besitzt.

[ Hinweis: Zeigen Sie zunächst, dass jede nach unten beschränkte nichtleere Menge X ein Infimum besitzt. Minimieren Sie hierzu iteriert die Nachkommastellen der Zahlen in X und gewinnen Sie so das Infimum von X in Dezimaldarstellung. Argumentieren Sie anschließend, dass Infima und Suprema für alle beschränkten nichtleeren Teilmengen existieren. ]

Vollständigkeit und Überabzählbarkeit

 Schließlich wollen wir nun noch zeigen, wie wir ein Ergebnis, das wir mit Hilfe der Dezimaldarstellung bewiesen haben, auch allein mit Hilfe der axiomatischen Beschreibung der reellen Zahlen ohne jede Darstellungstheorie erhalten können: Das Vollständigkeitsaxiom impliziert überraschend direkt, dass die reellen Zahlen überabzählbar sind. Ein einfacher Beweis hierzu verwendet das Prinzip der Intervallschachtelung:

Ergänzungsübung 7

Beweisen Sie die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen mit Hilfe des Prinzips der Intervallschachtelung.

[ Hinweis: Fixieren Sie reelle Zahlen x0, x1, …, xn, …, n  ∈  . Teilen Sie das Intervall [ 0, 1 ] wiederholt in jeweils drei abgeschlossene Teilintervalle und weichen Sie dabei schrittweise den Zahlen x0, x1, x2, …, xn, … aus. ]