Das Integral als Mittelwert

 Nachdem bislang der signierte Flächeninhalt im Vordergrund stand, wollen wir nun noch auf die Interpretation des Integrals als Mittelwert eingehen. Hierzu beobachten wir:

Ist f : [ 0, 1 ]   integrierbar und I(f) = c, so besitzen f und die konstante

Funktion mit Wert c auf [ 0, 1 ] denselben signierten Flächeninhalt.

Wir können also das Integral einer Funktion auf [ 0, 1 ] als den Mittelwert von f ansehen. Ist der Definitionsbereich von f ein Intervall [ a, b ], so müssen wir das Integral durch die Länge b − a des Intervalls teilen, um den Mittelwert zu erhalten. Allgemein definieren wir:

Definition (Mittelwert, gewichteter Mittelwert)

Sei f : [ a, b ]   integrierbar. Dann heißt die reelle Zahl

M(f)  =  I(f)b − a

der Mittelwert von f. Ist g : [ a, b ]  [ 0, ∞ [ integrierbar, I(g) > 0 und f g integrierbar, so heißt

Mg(f)  =  I(f g)I(g)

der gewichtete Mittelwert von f bzgl. der Gewichtsfunktion g.

analysis2-AbbID220a
analysis2-AbbID220b

Erstes Diagramm:  Der Mittelwert M(f) von f (gestrichelt)

Zweites Diagramm:  Der Mittelwert Mg(f) von f bzgl. g. Die Funktion g ist außerhalb von [ c, d ] gleich 0.

Beispiel

Ist f = 1 ≤ k ≤ 6 k 1] (k − 1)/6, k/6 [ auf [ 0, 1 ], d. h.,

f (x)  =  k  für alle x  ∈  ] (k − 1)/6, k/ 6 [, 1 ≤ k ≤ 6,  f (k/6) = 0 für 0 ≤ k ≤ 6,

so ist M(f) = I(f) = 3,5. Dies ist gleich dem Erwartungswert beim Würfeln mit einem fairen Würfel.

 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung besagt, dass eine stetige und in ] a, b [ differenzierbare Funktion f : [ a, b ]   ihre mittlere Steigung

m  =  f (b) − f (a)b − a

in ] a, b [ annimmt, also ein p  ∈  ] a, b [ mit f ′(p) = m existiert. Wir wollen nun ein analoges Resultat für die Integralrechnung beweisen. Dabei kann nicht jede integrierbare Funktion ihren Mittelwert annehmen. Zum Beispiel nimmt

1[ 1/2, 1 ] : [ 0, 1 ]  

ihren Mittelwert 1/2 nicht an. Dieser Fall kann nicht eintreten, wenn die Funktion keine Werte auslässt:

Satz (Mittelwertsatz der Integralrechnung)

Sei f : [ a, b ]   integrierbar, und der Wertebereich von f sei ein Intervall [ c, d ]. Weiter sei g : [ a, b ]  [ 0, ∞ [ integrierbar, I(g) > 0, und f g sei integrierbar. Dann gibt es ein p  ∈  [ a, b ] mit

f (p)  =  Mg(f)  =  I(fg)I(g). (Annahme des gewichteten Mittelwerts)

Speziell existiert ein p  ∈  [ a, b ] mit

f (p)  =  M(f)  =  I(f)b − a. (Annahme des Mittelwerts)

Beweis

Wegen { f (x) | x  ∈  [ a, b ] } = [ c, d ] und g ≥ 0 gilt

c g  ≤  f g  ≤  d g.

Damit ist nach Linearität und Monotonie des Integrals

c I(g)  ≤  I(f g)  ≤  d I(g).

Folglich existiert ein m  ∈  [ c, d ] mit

I(f g)  =  m I(g).

Da [ c, d ] der Wertebereich von f ist, gibt es ein p  ∈  [ a, b ] mit f (p) = m.

 Die Voraussetzung an f ist zum Beispiel erfüllt, wenn f stetig ist (Intervallsatz für stetige Funktionen) oder wenn f integrierbar ist und eine Stammfunktion besitzt, d. h., es gibt ein F : [ a, b ]   mit F′ = f (Intervallsatz der Differentialrechnung von Darboux).

 Wir werden in 1. 3 zeigen, dass das Produkt f g integrierbarer Funktionen f und g auf [ a, b ] stets integrierbar ist, sodass diese Voraussetzung in der Definition des gewichteten Mittelwerts und im Mittelwertsatz automatisch erfüllt ist.