Ausblick: Charakterisierung der Riemann-Integrierbarkeit
Wir haben gesehen, dass viele, aber nicht alle Funktionen f : [ a, b ] → ℝ integrierbar sind. Im Gegensatz zum Regelintegral haben wir jedoch noch kein griffiges Kriterium für die Riemann-Integrierbarkeit erkennen können. Ein solches Kriterium kann mit Hilfe moderner maßtheoretischer Begriffe formuliert werden. Wir definieren hierzu:
Definition (Lebesgue-Nullmenge)
Ein P ⊆ ℝ heißt eine Lebesgue-Nullmenge oder eine Menge mit Lebesgue-Maß Null, falls für alle ε > 0 Intervalle In = ] an, bn [, n ∈ ℕ, existieren mit
(a) | P ⊆ ⋃n In = { x ∈ ℝ | es gibt ein n mit x ∈ In }, |
(b) | ∑n L(In) = ∑n (bn − an) ≤ ε. |
Zur Überdeckung von P dürfen abzählbar viele Intervalle verwendet werden
Eine Menge P reeller Zahlen hat also das Lebesgue-Maß Null, wenn P durch abzählbar viele offene Intervalle mit beliebig kleiner positiver Längensumme überdeckt werden kann. (Die Offenheit der Intervalle ist dabei nicht wesentlich, man erhält den gleichen Begriff, wenn man beliebige Intervalle zulässt.)
Satz (Eigenschaften von Lebesgue-Nullmengen)
(a) | Jede abzählbare Menge hat das Lebesgue-Maß Null. |
(b) | Ist Pn eine Lebesgue-Nullmenge für alle n, so ist auch P = ⋃n Pn eine Lebesgue-Nullmenge. |
Beweis
zu (a): Die Aussage ist klar für P = ∅. Sei also P = { xn | n ∈ ℕ }. Sei ε > 0 beliebig. Wir setzen εn = ε/2n + 2 für alle n. Dann gilt
P ⊆ ⋃n ∈ ℕ Uεn(xn), ∑n L(Uεn) = ∑n 2εn = ∑n ε2n + 1 = ε.
zu (b): Sei ε > 0. Für alle n sei (Ink)k ∈ ℕ eine Folge von Intervallen mit
Pn ⊆ ⋃k Ink, ∑n L(Ink) ≤ ε2n + 1.
Dann ist { Ink | k, n ∈ ℕ } abzählbar und es gilt
P ⊆ ⋃n, k Ink, ∑n, k L(Ink) = ∑n ∑k L(Ink) ≤ ∑n ε2n + 1 = ε.
Aussage (b) ist eine Verallgemeinerung von (a), denn für alle x ∈ ℝ ist { x } eine Lebegue-Nullmenge. Um mit dem Argumentationstyp vertraut zu werden, ist ein separater Beweis von (a) aber vielleicht instruktiver.
Eine überabzählbare Lebesgue-Nullmenge werden wir im zweiten Abschnitt mit der Cantor-Menge C kennenlernen.
Im Hinblick auf die Riemann-Jordan-Länge gilt: Ist P ⊆ [ a, b ] eine Menge mit Jordan-Länge Null, d. h.
L(P) = ∫ba1P(x) dx = 0,
so ist P auch eine Lebesgue-Nullmenge. Dagegen ist 1P : [ a, b ] → ℝ im Allgemeinen nicht Riemann-integrierbar, wenn P ⊆ [ a, b ] eine Lebesgue-Nullmenge ist. Ein Beispiel liefert die Dirichletsche Sprungfunktion. Denn Q = ℚ ∩ [ a, b ] ist als abzählbare Menge eine Nullmenge, aber 1Q : [ a, b ] → ℝ ist nicht Riemann-integrierbar.
Es gilt der ebenso beeindruckende wie nützliche Charakterisierungssatz:
Satz (Integrierbarkeitskriterium von Lebesgue)
Sei f : [ a, b ] → ℝ beschränkt. Dann sind äquivalent:
(a) | f ist Riemann-integrierbar. |
(b) | P = { x ∈ [ a, b ] | f ist unstetig in x } ist eine Lebesgue-Nullmenge. |
Die Riemann-integrierbaren Funktionen sind also genau die im Sinne von Lebesgue „fast überall“ stetigen Funktionen. Speziell ist jede Funktion mit einer endlichen oder abzählbar unendlichen Menge an Unstetigkeitsstellen Riemann-integrierbar. Das Ergebnis ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Moderne das Verständnis der Klassik vertiefen kann.
Wir werden den Satz im zweiten Abschnitt beweisen. Die Implikation von (a) nach (b) könnte an dieser Stelle bewiesen werden und wir bereiten die Argumentation in den Übungen vor. Für die Implikation von (b) nach (a) ist es jedoch hilfreich, den topologischen Kompaktheitsbegriff zur Verfügung zu haben.