Zur Vertauschbarkeit von Integration und Limesbildung

 Wir stellen, dem Leitmotiv der Vertauschbarkeit von Operationen folgend, die Frage:

Gilt stets balim ∞ fn(x) dx  =  lim ∞ bafn(x) dx ?

 Das Riemann-Integral hat hier keine besonders guten Eigenschaften! Bereits die punktweise monotone Konvergenz von 0-1-wertigen Treppenfunktionen kann eine nichtintegrierbare Grenzfunktion erzeugen:

Satz (Verlust der Integrierbarkeit bei punktweiser Konvergenz)

Es gibt Treppenfunktionen

gn : [ 0, 1 ]  { 0, 1 },  n  ∈  ,

die punktweise monoton steigend gegen eine nichtintegrierbare Funktion konvergieren.

Beweis

Sei (qn)n  ∈   eine Folge, die alle rationalen Zahlen im Intervall [ 0, 1 ] ohne Wiederholungen durchläuft, d. h., für alle q  ∈   ∩ [ 0, 1 ] gibt es genau ein n mit qn = q. Wir setzen nun:

gn  =  1{ q0, …, qn }  für alle n.

Dann ist jedes gn eine Treppenfunktion und es gilt I(gn) = 0, da sich gn nur an endlich vielen Stellen von der Nullfunktion auf [ 0, 1 ] unterscheidet. Aber die Folge (gn)n  ∈   konvergiert punktweise monoton steigend gegen die nichtintegrierbare Dirichletsche Sprungfunktion 1Q auf [ 0, 1 ].

 Bei gleichmäßiger Konvergenz ist dagegen alles gut. Oben hatten wir bereits gezeigt, dass

I(limn gn)  =  limn I(gn)

gilt, wenn (gn)n  ∈   eine Folge von Treppenfunktionen auf [ a, b ] ist, die gleichmäßig konvergiert. Allgemein gilt nun:

Satz (Vertauschungssatz bei gleichmäßiger Konvergenz)

Sei (fn)n  ∈   eine Folge integrierbarer Funktionen auf [ a, b ], die gleichmäßig gegen ein f : [ a, b ]   konvergiert. Dann ist f integrierbar und es gilt

baf (x) dx  =  balimn fn(x) dx  =  limn bafn(x) dx.

Beweis

Sei ε > 0. Aufgrund der gleichmäßigen Konvergenz der Folge gibt es ein n0 mit der Eigenschaft:

|fn(x)  −  f (x)|  ≤  ε  für alle x  ∈ [ a, b ] und n ≥ n0.

Damit ist f beschränkt (durch ∥fn0∥ + ε), und für alle n ≥ n0 und alle Partitionen p gilt:

|Sp f  −  Spfn|  ≤  ε(b − a)  und  |spf  −  spfn|  ≤  ε(b − a).

Diese Abschätzungen übertragen sich auf die Ober- und Unterintegrale:

(+)  |Sf  −  Sfn|  ≤  ε(b − a)  und  |sf  −  sfn|  ≤  ε(b − a)   für alle n ≥ n0.

Da fn0 integrierbar ist, gilt Sfn0 = sfn0. Nach (+) gilt also

|Sf  −  sf|  ≤  |Sf  −  Sfn0|  +  |Sfn0  −  sfn0|  +  |sfn0  −  sf|  ≤  2ε(b − a).

Da dies für alle ε > 0 gilt, ist Sf = sf. Also ist f integrierbar. Weiter folgt aus (+), dass Sf = limn Sfn. Also ist

I(f)  =  Sf  =  limn Sfn  =  limn I(fn).

 Die Integrierbarkeitsaussage des Satzes verallgemeinert das Ergebnis, dass jede Regelfunktion integrierbar ist.

 Für Reihen erhalten wir:

Korollar (Vertauschungssatz für gleichmäßig konvergente Reihen)

Sei n fn eine Reihe integrierbarer Funktionen auf [ a, b ], die gleichmäßig gegen ein f : [ a, b ]   konvergiert. Dann ist f integrierbar, und es gilt

ba n fn(x) dx  =  n ba fn(x) dx. (gliedweise Integration)

 Speziell gilt die Vertauschbarkeit von Limes und Integral also für die gleichmäßig konvergenten Potenzreihen. Ist f = nan(x − p)n eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R und ist [ a, b ] ⊆ ] p − R, p + R [, so gilt

ba n an (x − p)n dx  =  n an ba(x − p)n dx (gliedweise Int. von Potenzreihen)

 Wir wollen noch ein positives Ergebnis für die punktweise Konvergenz ohne Beweis angeben. Es besagt, dass unter beschränkten Bedingungen lediglich die Integrierbarkeit der Grenzfunktion problematisch ist. Gilt sie, darf man Limes und Integral vertauschen.

Satz (Vertauschungssatz für punktweise beschränkte Konvergenz)

Sei (fn)n  ∈   eine Folge von integrierbaren Funktionen auf [ a, b ], die punktweise gegen ein integrierbares f : [ a, b ]   konvergiert. Die Folge sei beschränkt, d. h., es gebe ein s ≥ 0 mit ∥ fn ∥ ≤ s für alle n. Dann gilt

baf (x) dx  =  balimn fn(x) dx  =  limn bafn(x) dx.

 Der Leser möge eine unbeschränkte Folge von immer schmaler werdenden Zackenfunktionen fn : [ 0, 1 ]  [ 0, ∞ [ mit den Eigenschaften

(a)

I(fn)  =  1  für alle n

(b)

limn fn  =  0  (punktweise)

konstruieren. Sie zeigen, dass auf die Voraussetzung der Beschränktheit der Folge selbst bei stetigen Funktionen fn nicht verzichtet werden kann. Es ist wichtig, dass die Graphen der Funktionen fn in einem Rechteck [ a, b ] × [ −s, s ] leben.

 Einen der Gründe, warum das Riemann-Integral von den Mathematikern „überarbeitet“ wurde, können wir nun klar angeben:

Man möchte ein Integral zur Verfügung haben, das bessere

Eigenschaften hinsichtlich punktweiser Limesbildung besitzt.

Dieser Wunsch ist erfüllbar, und eine derartige Verbesserung des Riemann-Integrals ist das Lebesgue-Integral. Dieses Integral ist unempfindlich gegenüber abzählbaren Veränderungen und speziell ist die Dirichletsche Sprungfunktion 1Q auf [ a, b ] Lebesgue-integrierbar mit Lebesgue-Integral 0. Darüber hinaus gilt der Vertauschungssatz für punktweise beschränkte Konvergenz ohne die Annahme der Lebesgue-Integrierbarkeit der Grenzfunktion. Diese Integrierbarkeit wird gefolgert, nicht vorausgesetzt. Für alle Riemann-integrierbaren Funktionen f stimmen das Riemann- und das Lebesgue-Integral für f überein, sodass also das Lebesgue-Integral das Riemann-Integral so fortsetzt wie das Riemann-Integral das Regelintegral. Der Erfolg des Lebesgue-Integrals ist zu einem großen Teil den verbesserten Vertauschungseigenschaften geschuldet, die in der höheren Analysis und Wahrscheinlichkeitstheorie an allen Ecken und Enden gebraucht werden.

 Unter Verwendung des Auswahlaxioms der Mengenlehre kann man erneut 0-1-wertige Funktionen konstruieren, die nicht Lebesgue-integrierbar sind. Das Ziel, alle beschränkten Funktionen auf [ a, b ] integrieren zu können, ist mit dem Auswahlaxiom nicht vereinbar. Man kann das Lebesgue-Integral erneut erweitern, aber jede solche Erweiterung hinterlässt nichtintegrierbare Funktionen, und es ist keine „ultimative Erweiterung“ in Sicht. Irgendwann muss man also aufhören, den Integrationsbegriff auszureizen. Diese subtilen Fragen sind im 20. Jahrhundert intensiv untersucht worden, und von der Analysis führt heute an dieser Stelle eine goldene Brücke in die Grundlagenforschung der Mathematik.