Ausblick:  Zur Ableitung der Integralfunktion

 Wir haben gesehen, dass eine Integralfunktion einer stetigen Funktion f eine Stammfunktion von f ist. Die Voraussetzung der Stetigkeit kann nicht fallengelassen werden, denn bereits die Integralfunktionen von Treppenfunktionen weisen Knicke auf. Dennoch hat eine Integralfunktion in der Regel sehr gute Differenzierbarkeitseigenschaften. Speziell gilt der Hauptsatz II auch punktweise:

Satz (Hauptsatz II, punktweise Version)

Seien f : I   lokal integrierbar, und sei F : I   die Integralfunktion von f zum Startwert s. Dann gilt F′(x) = f (x) für alle x  ∈  I, in denen f stetig ist.

 Wir können obigen Beweis nicht übernehmen, da wir den Mittelwertsatz nicht anwenden können. Ein ε-δ-Stetigkeitsargument führt jedoch zum Ziel:

Beweis

Sei also f stetig in x  ∈  I. Nach Definition von F gilt für alle h ≠ 0 mit x + h  ∈  I:

F(x + h) − F(x)h  −  f (x)  =  1hx+hxf (t) − f (x) dt.

Sei nun ε > 0. Aufgrund der Stetigkeit von f in x gibt es ein δ > 0, sodass |f (t) − f (x)| ≤ ε für alle t  ∈  [ x − δ, x + δ ] ∩ I. Ist also |h| < δ, so ist der Integrand f (t) − f (x) des obigen Integrals beschränkt durch ε und damit gilt

| F(x + h) − F(x)h  −  f (x) |  ≤  1|h| |h| ε  =  ε.

Da ε > 0 beliebig ist, folgt

F′(x)  =  lim 0 F(x + h) − F(x)h  =  f (x).

 Der Hauptsatz II für stetige Funktionen folgt aus der punktweisen Version, sodass wir also einen Beweis gefunden haben, der ohne den Mittelwertsatz der Integralrechnung auskommt. Die Argumentation liefert allgemeiner:

Satz (Hauptsatz II, Version für Regelfunktionen)

Sei f : I   lokal integrierbar, und sei F : I   die Integralfunktion von f zu einem Startwert s. Weiter sei x  ∈  I derart, dass der rechtsseitige Grenzwert f (x+) = lim 0 f(x + h) existiert. Dann gilt F′(x+) = f (x+) für die rechtsseitige Ableitung F′(x+) von F an der Stelle x. Analoges gilt für linksseitige Grenzwerte und Ableitungen. Ist also f eine Regelfunktion, so ist F rechts- und linksseitig differenzierbar mit F′(x+) = f (x+) und F′(x−) = f (x−) für alle x  ∈  I.

 An einer Stetigkeitstelle fallen der links- und rechtsseitige Grenzwerte f (x+) und f (x−) mit dem Funktionswert f (x) zusammen, und damit verallgemeinert dieser Satz noch einmal den punktweisen Hauptsatz II.

Beweis

Sei also x  ∈  I derart, dass der rechtseitige Grenzwert

f (x+)  =  lim 0 f(x + h).

existiert. Dann gibt es für ein gegebenes ε > 0 ein δ > 0 mit

|f (t)  −  f (x+)|  <  ε  für alle t  ∈  ] x, x + δ [.

Wie im Beweis der lokalen Version des Hauptsatzes II folgt hieraus, dass für alle h mit 0 < h < δ gilt:

| F(x + h) − F(x)h  −  f (x+) |   =  | 1hx+hxf (t) − f (x+) dt |   <  ε.

Dies zeigt, dass für die rechtsseitige Ableitung gilt:

F′(x+)  =  lim 0 F(x + h) − F(x)h  =  f +(x).

Analog gilt F′(x−) = lim 0 (F(x + h) − F(x))/h = f (x−), falls f (x-) existiert.

Ist f eine Regelfunktionen, so existieren alle einseitigen Grenzwerte. Dies zeigt den Zusatz.

 Insgesamt haben wir gezeigt, dass gute Eigenschaften von f : [ a, b ]   zu noch besseren Eigenschaften der Integralfunktion F von f zu einem beliebigen Startwert s führen:

Ist f : [ a, b ]  

so ist F : [ a, b ]  

integrierbar

Lipschitz-stetig

stetig

stetig differenzierbar

f (x+) existiert

F′(x+)  =  f (x+)

f (x−) existiert

F′(x−)  =  f (x−)

f (x−)  =  f (x)  =  f (x+)

F′(x)  =  f (x)

analysis2-AbbID264a
analysis2-AbbID264b

Beispiele für Integralfunktionen F(x)  =  x0f (t) dt mit unstetigen Integranden