Ausblick:  Die Kreisberechnung bei Archimedes

 Obige Bestimmung der Fläche eines Kreises erforderte ein vergleichsweise hohes Maß an Hilfsmitteln. Neben dem Hauptsatz und der Substitutionsregel haben wir vor allem auch die trigonometrischen Funktionen eingesetzt. Wir besprechen nun noch eine „sinusfreie“ Methode, mit der Archimedes die Kreisfläche berechnet hat. Dabei wird ein Kreis durch regelmäßige einbeschriebene und umschriebene n-Ecke approximiert, deren Flächen sich elementargeometrisch bestimmen lassen. Nützlich hierzu sind die drei klassischen Mittelwerte zweier positiver Größen, an die wir hier erinnern möchten (vgl. auch 1. 4 in Band 1).

Definition (arithmetisches, geometrisches, harmonisches Mittel)

Für alle reellen Zahlen a, b > 0 sei

A(a, b)  =  a + b2, (arithmetisches Mittel)

G(a, b)  =  ab, (geometrisches Mittel)

H(a, b)  =  21/a + 1/b  =  2aba + b. (harmonisches Mittel)

 Die Mittel wachsen monoton in beiden Argumenten a und b und liegen stets im durch a und b definierten Intervall. Für a = b sind alle Mittel gleich a und für a < b gilt

A(a, b)  −  G(a, b)  =  ba22  >  0,

G(a, b)  −  H(a, b)  =  abba2a+b  >  0,

sodass A(a, b) > G(a, b) > H(a, b). (Merkregel: AGH wie im Alphabet.) Es gilt zum Beispiel

A(1, 9)  =  5,  G(1, 9)  =  3,  H(1, 9)  =  9/5  =  1,8.

 Nach diesen Vorbereitungen können wir die Kreisberechnung durchführen. Sei also K ein Kreis mit Radius r. Für alle n ≥ 3 sei

An  =  „der Flächeninhalt eines in K einbeschriebenen regelmäßigen n-Ecks“,

Bn  =  „der Flächeninhalt eines K umschließenden regelmäßigen n-Ecks“.

Die folgenden Diagramme zeigen A6 und B6.

analysis2-AbbID288a
analysis2-AbbID288b

Die Zerlegung in 6 gleichseitige Dreiecke mit Seitenlänge bzw. Höhe r zeigt:

(+)  A6  =  r2 32 3,  B6  =  r2 2 3.

Entscheidend sind nun die folgenden Rekursionsformeln für die Verdopplung der Eckenzahl:

(++)  A2n  =  G(An, Bn),  B2n  =  H(A2n, Bn).

Die erste Formel ergibt sich aus folgendem Diagramm:

analysis2-AbbID290

(1)

2An  =  n AB MS

(2)

2Bn  =  n CE MD

(3)

2A2n  =  n AB MD

(4)

AB¯CE¯  =  MS¯MD¯

(5)

A2nBn  =  AB¯CE¯

(6)

AnBn  =  AB¯MS¯CE¯MD¯  =  AB¯2CE¯2  =  A2n2Bn2

Wir haben die Dreiecksflächenformel „halbe Grundfläche mal Höhe“ für (1) und (2), die Formel AB · MD/2 für die Fläche des Drachenvierecks MADB für (3) und den Strahlensatz für (4) verwendet. Aus (1) − (4) folgen (5) und (6). Die Multiplikation von (6) mit B2n liefert die erste Rekursionsformel.

 Für die zweite Rekursionsformel betrachten wir:

analysis2-AbbID292

(7)

B2n  =  2n AF MA

(8)

Bn − B2n  =  n AF AC

(9)

MA¯+AC¯MA¯  =  CE¯AB¯

(10)

1  +  2(Bn − B2n)B2n  =  BnA2n

(11)

2B2n  =  1A2n  +  1Bn

Für (8) verwenden wir, dass Bn − B2n in 2n zu ACF kongruente Dreiecke zerfällt. Der Strahlensatz liefert (9). Die linke Seite in (10) folgt aus (7) − (9) und die rechte aus (5). Umformung von (10) liefert (11) und damit die Behauptung.

 Ausgehend von (+) lassen sich mit Hilfe der Rekursionsformeln (++)

A6,  B6,  A12,  B12,  A24,  B24,  …,  A6 · 2n,  B6 · 2n,  …

berechnen. Für den Radius r = 1 ergibt sich zum Beispiel

A48  =  3,1326286132…,  B48  =  3,1460862151…

A6 · 210  =  3,1415921059…,  B6 · 210  =  3,1415929273…

 Für r = 1 definieren wir

π  =  supn A6 · 2n  (=  3,1415926535…)

Es gilt π = infn B6 · 2n (Beweis als Übung). Für beliebige Radien r erhalten wir r2 π als Grenzwert der Approximation, da der Faktor r2 in (+) durch die Rekursionsformeln weitervererbt wird.

 Die Methode des Archimedes zur Berechnung der Kreisfläche liefert also die Formel r2π mit einer Konstanten π, die als Grenzwert einer rekursiv definierten Folge definiert ist. Die Folge eignet sich auch zur numerischen Berechnung von π. Im Gegensatz zum Faktor 4/3 bei der Quadratur der Parabel haben wir keinen einfachen Wert für π gefunden. Es gibt auch gar keinen: π ist nicht nur, wie wir oben gesehen haben, irrational, sondern, wie Ferdinand von Lindemann 1882 bewies, sogar transzendent und damit ist die Konstruktion von π mit Zirkel und Lineal unmöglich.

Kreisfläche und Kreisumfang

analysis2-AbbID294a
analysis2-AbbID294b
analysis2-AbbID294c
analysis2-AbbID294d

 Ebenfalls dem Archimedes zugeschrieben wird eine anschauliche geometrische Argumentation, die den Zusammenhang zwischen Flächeninhalt und Umfang eines Kreises aufzeigt. Wir teilen hierzu einen Kreis K mit Radius r in 2n gleich große Sektoren S1, …, S2n (Kuchenstücke) und ordnen diese Sektoren wie in den Diagrammen rechts an.

 Die Figuren besitzen den Flächeninhalt A = r2π und den Umfang U + 2r, wobei U der Umfang von K ist. Strebt n gegen unendlich, so nähern sich die Figuren einem Rechteck der Breite U/2 und Höhe r an. Damit ist

U2 r  =  A  =  r2 π,

woraus sich

U  =  2rπ

ergibt. Umgekehrt kann man so die Flächenformel r2π erhalten, wenn man den Umfang U = 2rπ bereits kennt.