Die Euler-Mascheroni-Konstante
Bei der Diskussion der Divergenz der harmonischen Reihe ∑n ≥ 1 1/n hatten wir erwähnt, dass die Partialsummen
sn = ∑1 ≤ k ≤ n1k
dieser Reihe wie der natürliche Logarithmus log wachsen, und dass stärker
γ = limn (sn − log(n)) (Euler-Mascheroni-Konstante)
existiert (vgl. Kapitel 2. 3 in Band 1). Dies wollen wir nun mit Hilfe von Integration beweisen. Das wesentliche Element der Argumentation ist die Formel
∫b11x dx = log(b).
Wir zeigen mit Hilfe dieser Formel und einer die Logarithmus-Reihe bemühenden Abschätzung, dass limn (sn − log(n)) existiert. Danach diskutieren wir einen äquivalenten Zugang, der uneigentliche Integrale verwendet.
Satz (Existenz der Euler-Mascheroni-Konstante)
Für alle n ≥ 1 seien
sn = ∑1 ≤ k ≤ n1k, tn = sn − log(n).
Dann gilt
(a) | tn > 0 für alle n ≥ 1, |
(b) | (tn)n ∈ ℕ ist monoton fallend. |
Insbesondere existiert γ = infn tn = limn tn.
Beweis
zu (a): Sei f : [ 1, ∞ [ → [ 0, ∞ [ die Funktion mit f (x) = 1/x für alle x ≥ 1. Weiter sei n ≥ 1 und p die Partition von [ 1, n ] der Länge n − 1 mit den Zerlegungspunkten 1, 2, …, n − 1. Dann gilt
sn − 1 = ∑1 ≤ k < n1k = Sp f ≥ ∫n11x dx = log(n).
Damit ist sn > sn − 1 ≥ log(n) und folglich tn > 0.
zu (b): Sei n ≥ 1. Dann gilt unter Verwendung der Logarithmus-Reihe:
tn − tn + 1 | = sn − log(n) − sn + 1 + log(n + 1) |
= log(n + 1n) − 1n + 1 = log(1 + 1n) − 1n + 1 | |
= ∑k ≥ 1(−1)k − 1 1/nkk − 1n + 1 | |
= 1n − 12n2 − 1n + 1 + ∑k ≥ 3(−1)k − 1 1k nk | |
= n − 12n2(n + 1) + ∑k ≥ 3(−1)k − 1 1k nk > 0, |
denn der erste Summand ist nichtnegativ und die Summe rechts ist positiv nach dem Leibniz-Kriterium für alternierende Reihen.
Wir zeigen nun, dass die Euler-Mascheroni-Konstante der Inhalt einer anschaulichen unbeschränkten Fläche ist. Ist g : [ 1, ∞ ] → [ 0, ∞ [ die Stufenfunktion 1/floor auf [ 1, ∞ [, d. h.
g(x) = 1⌊x⌋ = 1k für alle x ∈ [ k, k + 1 [ und k ≥ 1,
so gilt g(x) ≥ 1/x für alle x ≥ 1 (da ⌊x⌋ ≤ x). Weiter gilt
limn ≥ 1 ∫n11⌊x⌋ − 1x dx | = limn ≥ 1 (sn − 1 − log(n)) |
= limn ≥ 1 (tn − 1n) = γ. |
Da der Integrand nichtnegativ ist, wächst das Integral monoton in n und damit konvergiert die Folge (tn − 1/n))n ≥ 1 monoton steigend gegen γ.
Die Überlegung zeigt, dass γ der Inhalt der im folgenden Diagramm grau dargestellten Fläche ist.
Dass der Inhalt A1 + A2 + A3 + … dieser Fläche endlich ist, kann man auch unabhängig von obigen Überlegungen ohne Verwendung der Logarithmusreihe einsehen. Es gilt
An ≤ (g(n) − g(n + 1)) · 1 = 1n − 1n + 1 = 1n(n + 1) für alle n ≥ 1
und damit
∑n ≥ 1 An ≤ ∑n ≥ 11n(n + 1) = 1.
Man kann also alternativ γ von vorneherein als die unendliche Summe der Einzelflächen An definieren, d. h., als das uneigentliche Integral
∫∞11⌊x⌋ − 1x dx = ∑n ≥ 1 An.
Dass γ = limn ≥ 1 tn = limn ≥ 1 sn − log(n) gilt, gewinnt man bei diesem Zugang aus
γ = limn ≥ 1 (tn − 1/n) = limn ≥ 1 tn.
Numerisch gilt
γ = 0,5772156649015328606065120900824024310421593359399235988…
Es ist nicht bekannt, ob γ irrational ist. Die Konstante γ spielt in der analytischen Zahlentheorie eine wichtige Rolle, im Vergleich zu π, e und dem Goldenen Schnitt hält sie sich dagegen in geometrischen Figuren und der mathematischen Naturbeschreibung vornehm zurück.