Offene Mengen

 Die anschauliche Eigenschaft, Randpunkte nicht zu enthalten, besitzen neben den offenen Intervallen ] a, b [ beispielsweise auch die Mengen der Form ] a, b [ ∪ ] c, d [. Eine unendliche Vereinigung wie etwa

] 0, 1 [  ∪  ] 2, 3 [  ∪  ] 4, 5 [  ∪  …  ∪  ] n, n + 1 [  ∪  …

hat ebenfalls diese topologische Struktur. Sie lässt sich allgemein mit Hilfe der ε-Umgebungen einfangen:

Definition (offen)

Ein U ⊆  heißt offen, falls für alle x  ∈  U ein ε > 0 existiert mit Uε(x) ⊆ U.

 Eine offene Menge enthält also mit jedem ihrer Punkte ein offenes Intervall, in dem dieser Punkt liegt. Ist U offen, so liegt anschaulich jedes Element von U in der Menge U und nicht an ihrem Rand. Insbesondere verhalten sich auf einer offenen Menge U definierte Funktionen f : U   in der Nähe eines p  ∈  U so, wie wir es von Funktionen, die auf offenen Intervallen definiert sind, gewohnt sind. Zum Beispiel sind die Funktionswerte f(p ± 1/n) für hinreichend große n definiert.

 Unsere bevorzugten Buchstaben für offene Mengen sind U und V. Die Verwendung von „O“ für „offen“ bzw. engl. „open“ ist nicht üblich.

 Jede Menge Uε(p) ist offen. Allgemeiner sind alle offenen Intervalle ] a, b [ mit −∞ ≤ a ≤ b ≤ ∞ offen. Die leere Menge und  sind offen. Die leere Menge ist die einzige endliche offene Menge. Stärker gilt: Ist P ⊆  abzählbar und nichtleer, so ist P nicht offen. Dies liegt daran, dass jede nichtleere offene Menge ein offenes Intervall ] a, b [ mit a < b enthält, und dass jedes derartige Intervall überabzählbar ist. Genauer zeigt die Überlegung, dass jede nichtleere offene Menge gleichmächtig zu  ist.

 Unmittelbar aus der Definition folgt:

Satz (offene Mengen als Vereinigung von ε-Umgebungen)

Sei U ⊆ . Dann sind äquivalent:

(a)

U ist offen.

(b)

U ist eine Vereinigung von Mengen der Form Uε(p).

(c)

U ist eine Vereinigung von offenen Intervallen.

 Wir werden gleich sehen, dass wir die Aussage (c) dieses Satzes noch verstärken können: Eine offene Menge U zerfällt in paarweise disjunkte (beschränkte oder unbeschränkte) Intervalle. Die offenen Teilmengen von  haben also eine sehr anschauliche Struktur.

 Ständig im Einsatz sind die folgenden Eigenschaften:

Satz (Abgeschlossenheitseigenschaften der offenen Mengen)

Sei I eine Menge, und seien Ui ⊆  offen für alle i  ∈  I. Dann gilt:

(a)

i  ∈  I Ui ist offen.

(b)

Ist I endlich, so ist ⋂i  ∈  I Ui offen.

 Hier und im Folgenden verwenden wir die Konvention ⋂ ∅ = , sodass die zweite Aussage auch dann gilt, wenn die Indexmenge I leer ist.

Beweis

zu (a):  Sei U = ⋃i  ∈  IUi, und sei p  ∈  U. Dann existiert ein i  ∈  I mit p  ∈  Ui.

Da Ui offen ist, gibt es ein ε > 0 mit Uε(p) ⊆ Ui. Wegen Ui ⊆ U ist dann aber auch Uε(p) ⊆ U. Dies zeigt, dass U offen ist.

zu (b):  Sei U = ⋂i  ∈  IUi, und sei p  ∈  U. Für alle i  ∈  I gibt es ein εi > 0 mit Uεi(p) ⊆ Ui. Aufgrund der Endlichkeit von I existiert

ε  =  mini  ∈  I εi  >  0.

Es gilt Uε(p) ⊆ Uεi(p) ⊆ Ui für alle i  ∈  I, und damit ist Uε(p) ⊆ U. Dies zeigt, dass U offen ist.

 Insbesondere ist also ⋃n  ∈  Un offen, falls U0, U1, U2, … eine Folge offener Mengen ist. Die Aussage (a) gilt aber auch für die Vereinigung überabzählbar vieler offener Mengen.

 In Kurzform lautet der Satz: Die Vereinigung beliebig vieler und der Durchschnitt endlich vieler offener Mengen ist offen. Dagegen ist das Komplement Uc =  − U einer offenen Menge U im Allgemeinen nicht mehr offen. Weiter zeigen zum Beispiel die offenen Mengen

Un  =  ] −1/n, 1/n [  =  U1/n(0),  n  ≥  1,

dass der Durchschnitt unendlich vieler offener Mengen nicht mehr offen sein muss. Es gilt ⋂n ≥ 1 Un = { 0 }, und die Menge { 0 } ist nicht offen.

 Wir beweisen nun die angekündigte einfache Struktur der offenen Teilmengen von . Im Gegensatz zu den Abgeschlossenheitseigenschaften beruht sie auf der linearen Ordnung der reellen Zahlen, und sie wird sich deswegen nicht auf die mehrdimensionalen Kontinua n oder auf allgemeinere metrische Räume übertragen.

Satz (Darstellungssatz für offene Mengen in )

Sei U ⊆  offen. Dann ist U die Vereinigung von abzählbar vielen paarweise disjunkten offenen Intervallen.

Beweis

Wir definieren für alle x, y  ∈  U:

x  ∼  y,  falls[ min(x, y), max(x, y) ] ⊆ U.

Dann ist ∼ eine Äquivalenzrelation auf U, und die Faktorisierung

𝒰  =  { x/∼ | x  ∈  U }

liefert eine Darstellung wie gewünscht:

(a)

Die Elemente von 𝒰 sind paarweise disjunkte nichtleere Mengen.

(b)

Jedes U  ∈  𝒰 ist ein offenes Intervall.

(c)

𝒰 ist abzählbar.

Zum Beweis von (c) wird benutzt, dass jedes nichtleere offene reelle Intervall eine rationale Zahl enthält, sodass es nur abzählbar viele paarweise disjunkte solche Intervalle geben kann. Die anderen Aussagen sind einfach zu zeigen.

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Ein offenes U ⊆  zerfällt in abzählbar viele offene Intervalle.

 Die Äquivalenzrelation des Beweises hat eine sehr anschauliche Bedeutung: Es gilt x ∼ y für x, y  ∈  U, wenn wir entlang der reellen Zahlengeraden von x nach y gehen können, ohne dabei die Menge U zu verlassen. Ist zum Beispiel

U  =  ] −∞, 0 [  ∪  ] 1, 2 [  ∪  ] 4, 8 [,

so sind die drei offenen Intervalle der Definition von U genau die Äquivalenzklassen von ∼. Allgemein heißen die Äquivalenzklassen von ∼ die Zusammenhangskomponenten der offenen Menge U ⊆ .