Abgeschlossene Mengen

 Da die offenen Mengen nicht abgeschlossen unter Komplementbildung sind, erhalten wir durch die Komplementbildung einen neuen Mengentyp:

Definition (abgeschlossen)

Ein A ⊆  heißt abgeschlossen, falls  − A offen ist.

 Bevorzugte Buchstaben für abgeschlossene Mengen sind A, B, C (das an engl. „closed“ erinnernde „C“ wird aber auch für die Cantor-Menge verwendet, die wir unten definieren werden). Weiter ist auch F für franz. „fermé“ üblich.

 Die leere Menge und  sind abgeschlossen, da  und ∅ offen sind. Sie bilden damit Beispiele für Mengen, die sowohl abgeschlossen als auch offen sind. Darüber hinaus gibt es keine weiteren derartigen Mengen: Ist P ⊆  offen und abgeschlossen, so ist P = ∅ oder P = . Diese Tatsache werden wir im nächsten Kapitel für einen topologischen Beweis des Zwischenwertsatzes verwenden.

 Jedes abgeschlossene Intervall [ a, b ] ist abgeschlossen, da sein Komplement die Vereinigung zweier offener Mengen ist. Daneben sind auch die Intervalle der Form ] −∞, b ] und [ a, ∞ [ abgeschlossen. Jede endliche Menge ist abgeschlossen, und auch die Mengen  und  sind abgeschlossen. Während den offenen Mengen also nur die Mächtigkeiten 0 und „überabzählbar“ zukommen, können die abgeschlossenen Mengen also endlich, abzählbar unendlich oder überabzählbar sein. Dies ist ein erstes Beispiel für die bemerkenswerte Tatsache, dass abgeschlossene Mengen komplizierter sind als offene Mengen. Und es erheben sich nichttriviale Fragen wie etwa:

Ist jede überabzählbare abgeschlossene Menge A ⊆  gleichmächtig zu  ?

Die Antwort ist „ja“, aber der Beweis ist im Gegensatz zur analogen Frage für die offenen Mengen nicht mehr einfach.

 Für die abgeschlossenen Mengen gelten die dualen Eigenschaften der offenen Mengen:

Satz (Abgeschlossenheitseigenschaften der abgeschlossenen Mengen)

Sei I eine Menge, und seien Ai ⊆  abgeschlossen für alle i  ∈  I. Dann gilt:

(a)

i  ∈  I Ai ist abgeschlossen.

(b)

Ist I endlich, so ist ⋃i  ∈  I Ai abgeschlossen.

 Die zweite Aussage ist für abzählbare Vereinigungen im Allgemeinen nicht mehr richtig:

Beispiel

Die Menge P = { 1/n | n ≥ 1 } ist die abzählbare Vereinigung der abgeschlossenen Mengen An = { 1/n }, n ≥ 1, aber P ist nicht abgeschlossen. Der Menge „fehlt“ der Punkt 0. Die Menge P ∪ { 0 } ist dagegen abgeschlossen, denn das Komplement dieser Menge zerfällt in die offenen Intervalle

] −∞, 0 [,  ] 1, ∞ [,  ] 1/2, 1 [,  ] 1/3, 1/2 [,  …

 Abgeschlossene Mengen lassen sich mit Hilfe von Häufungspunkten charakterisieren. Häufungspunkte für Mengen hatten wir in der Analysis 1 bereits eingeführt. Mit Hilfe von Umgebungen können wir sie in der folgenden äquivalenten Form definieren:

Definition (Häufungspunkt einer Menge)

Seien P ⊆  und p  ∈  . Dann heißt p ein Häufungspunkt von P, falls für alle Umgebungen U von p gilt:

(U − { p })  ∩  P  ist nichtleer. (Häufungspunktbedingung)

 Tatsächlich enthält eine Umgebung U eines Häufungspunktes p von P immer sogar unendlich viele Punkte von P, sodass man auch „U ∩ P ist unendlich“ statt „U ∩ P enthält einen von p verschiedenen Punkt“ in der Definition verwenden kann. Will man aber zeigen, dass ein Punkt p  ∈   ein Häufungspunkt von P ist, so genügt es, für jede (ohne Einschränkung offene) Umgebung U von p ein einziges von p verschiedenes x zu finden, das in P ∩ U liegt. Die Bedingung der Definition lässt sich später zudem unverändert für topologische Räume übernehmen.

 Ein Häufungspunkt p von P kann ein Element von P sein oder nicht. Die Null ist ein Häufungspunkt von ] 0, 1 [ und von [ 0, 1 ]. Allgemein ist p genau dann ein Häufungspunkt von P − { p }, wenn p ein Häufungspunkt von P ∪ { p } ist.

 Wir zeigen nun, dass sich die Komplementbildung der offenen Mengen mit Hilfe von Häufungspunkten formulieren lässt.

Satz (Häufungspunkt-Charakterisierung der Abgeschlossenheit)

Sei A ⊆ . Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:

(a)

A ist abgeschlossen.

(b)

Für alle p  ∈   gilt: Ist p ein Häufungspunkt von A, so ist p  ∈  A.

Beweis

(a) impliziert (b):  Sei p ein Häufungspunkt von A. Für alle Umgebungen U von p ist dann U ∩ A nichtleer, also U keine Teilmenge von  − A. Da  − A offen ist, ist also p  ∉   − A und damit p  ∈  A.

(b) impliziert (a):  Sei p  ∈   − A. Dann gibt es eine Umgebung U von p mit U ∩ A = ∅, da sonst p ein Häufungspunkt von A wäre und p  ∈  A gelten würde. Aber U ∩ A = ∅ ist gleichwertig zu U ⊆  − A. Also ist  − A eine Umgebung von p. Da dies für alle p  ∈   − A gilt, ist  − A offen und damit A abgeschlossen.

 Eine Menge ist also genau dann abgeschlossen, wenn sie alle ihre Häufungspunkte enthält. Leicht einzusehen ist die folgende Variante des Charakterisierungssatzes für Folgen:

Satz (Folgen-Charakterisierung der abgeschlossenen Mengen)

Sei A ⊆ . Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:

(a)

A ist abgeschlossen.

(b)

Jede Cauchy-Folge in A konvergiert in A, d. h., ist (xn)n  ∈   eine Cauchy-Folge mit xn  ∈  A für alle n, so gilt limn xn  ∈  A.

 Historisch wurden die abgeschlossenen Mengen sogar vor den offenen Mengen untersucht. Die auf Georg Cantor zurückgehende Bezeichnung „abgeschlossen“ wird durch die beiden Charakterisierungssätze motiviert. Abgeschlossene Mengen sind abgeschlossen unter der Bildung von Häufungspunkten und Grenzwerten. Heute stehen in der Topologie in der Regel die offenen Mengen (oder gleichwertig die Umgebungen) an der Spitze. Sie sind, wie wir schon angedeutet haben und bei der Diskussion der Cantor-Menge noch einmal sehen werden, einfacher als die abgeschlossenen Mengen. Da die offenen Mengen aber die Komplemente der abgeschlossenen Mengen sind, kann man prinzipiell auch mit den abgeschlossenen Mengen beginnen. Setzen wir

𝒰  =  { U ⊆  | U offen },  𝒜  =  { A ⊆  | A abgeschlossen },

so gilt  𝒰  =  {  − A | A  ∈  𝒜 },  𝒜  =  {  − U | U  ∈  𝒰 }. Es gilt jedoch nicht, dass 𝒰 = () − 𝒜 = { X ⊆  | X  ∉  𝒜 }, und ebenso ist ist 𝒜 = () − 𝒰 nicht richtig, man betrachte etwa das Intervall ] 0, 1 ], das weder zu 𝒰 noch zu 𝒜 gehört. Den Bereich () − (𝒰 ∪ 𝒜) der Teilmengen von , die weder offen noch abgeschlossen sind, werden wir im Ausblick genauer untersuchen.