Die Vervollständigung eines metrischen Raumes

 Jeder metrische Raum lässt sich zu einem vollständigen metrischen Raum erweitern. Die Idee ist, jeder divergenten Cauchy-Folge einen Punkt zuzuordnen, der im vergrößerten Raum der Grenzwert der Folge sein wird. Anschaulich flicken wir also den Raum, indem wir seine Löcher stopfen und seinen Rand säumen. Um keine Namen für die neuen Punkte erfinden zu müssen, verwenden wir die Folgen selbst als Punkte − ein gewöhnungsbedürftiges, aber korrektes und logisches Vorgehen. Da es verschiedene Cauchy-Folgen gibt, die auf das gleiche Loch oder den gleichen fehlenden Randpunkt zulaufen, ist zudem die Bildung von Äquivalenzklassen nötig. Die Konstruktion wirkt dadurch technisch, die Grundidee bleibt einfach.

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Ein divergente Cauchy-Folge in (X, d). Um das „Loch“ des Raumes zu füllen, fügen wir zu X einen Punkt p hinzu, der zum Grenzwert dieser Folge wird.

 Sei also (X, d) ein beliebiger metrischer Raum. Wir setzen

F  =  { (xn)n ∈  | (xn)n ∈  ist eine Cauchy-Folge in (X, d) }.

In F nehmen wir auch die bereits konvergenten Cauchy-Folgen mit auf, wodurch die Konstruktion einfacher zu notieren wird. Wir definieren nun eine Äquivalenzrelation ∼ auf F durch

(xn)n ∈   ∼  (yn)n ∈ ,  falls  limn xn − yn  =  0  in (X, d).

Weiter definieren wir:

X*  =  F/∼  =  { (xn)n ∈ /∼ | (xn)n ∈   ∈  F },

d*((xn)n ∈ /∼, (yn)n ∈ /∼)  =  limn d(xn, yn)  für alle (xn)n ∈ , (yn)n ∈   ∈  F.

Die Funktion d* ist wohldefiniert und eine Metrik auf X*. Identifizieren wir die Äquivalenzklasse einer konstanten Folge (x)n  ∈  /∼ mit dem Punkt x  ∈  X, so können wir X ⊆ X* annehmen. Die Metrik respektiert diese Identifikation, da

d*((x)n  ∈  /∼, (y)n  ∈  /∼)  =  d(x, y)  für alle x, y  ∈  X.

Der Raum (X, d) wird so zu einem dichten Teilraum von (X*, d*), und es gilt

(+)  limn xn  =  (xn)n ∈ /∼  in (X*, d*)  für alle (xn)n ∈   ∈  F.

Allgemeiner konvergiert jede Cauchy-Folge in X*, sodass uns die Bildung von X**, X*** usw. erspart bleibt:

Satz (Vollständigkeit von X*)

(X*, d*) ist vollständig.

Beweisskizze

Sei (fn)n  ∈   eine Cauchy-Folge in (X*, d*), und sei fn = (xn, k)k  ∈  /∼ für alle n.

Durch Teilfolgenbildung können wir annehmen, dass d(xn, k, xn, k′) ≤ 1/2n für alle n, k, k′. Wir setzen yk = xk, k für alle k. Dann gilt limn fn = (yk)k  ∈  /∼.

 Alternativ kann man argumentieren, dass X dicht in X* ist und dass nach (+) Cauchy-Folgen mit Gliedern in X im Raum (X*, d*) konvergieren, was für die Vollständigkeit von (X*, d*) genügt.

 Das Ergebnis rechtfertigt:

Definition (Vervollständigung eines metrischen Raumes)

Der metrische Raum (X*, d*) heißt die Vervollständigung von (X, d).

Beispiel

Sei X = ] 0, 1 ], versehen mit der euklidischen Metrik d. Dann hat die Vervollständigung (X*, d*) von (X, d) genau einen neuen Punkt, nämlich

p  =  (1/2n)n  ∈  /∼  =  (1/(n + 1))n  ∈  /∼  =  ….

Ersetzen wir p durch 0, so erhalten wir [ 0, 1 ] mit der euklidischen Metrik.

 Analog liefert die Vervollständigung von ] 0, 1 [ nach Punktaustausch das Intervall [ 0, 1 ] und die von ] 0, 2 [ − { 1 } das Intervall [ 0, 2 ]. Die Vervollständigung von  liefert ganz . Dieser Spezialfall verdient eine eigene Beachtung:

Die reellen Zahlen als Vervollständigung der rationalen Zahlen.

 Bilden wir * unter der euklidischen Metrik auf , so wird für jede irrationale Zahl ein neuer Punkt zu  hinzugefügt und wir erhalten einen zu  unter der euklidischen Metrik isomorphen metrischen Raum. In einem Aufbau des Zahlensystems definiert man nicht selten sogar  als *. Hierbei ist aber etwas Vorsicht geboten, da  (und damit der Begriff eines metrischen Raumes) ja noch nicht zur Verfügung steht. Die Begriffe „Cauchy-Folge in “ und „Nullfolge in “ lassen sich aber ohne Bezug auf  definieren, indem der Quantor ∀ε > 0 in den Definitionen dieser Begriffe auf positive rationale Zahlen beschränkt wird. Man kann dann obige Konstruktion von * durchführen und  = * setzen, wobei die Metrik d* auf * nun definiert wird durch

d*((xn)n ∈ /∼, (yn)n ∈ /∼)  =  (|xn − yn|)n  ∈  /∼  ∈   = *.

 Dass sich die Punkte eines „geometrisch-realen“ Kontinuums durch rationale Cauchy-Folgen beschreiben lassen (Beschränkung) und umgekehrt diesen Folgen auch Punkte entsprechen (Reichhaltigkeit) hat Cantor im Jahr 1872 vertreten. Aus dem gleichen Jahr stammt die äquivalente Modellierung eines Kontinuums durch Dedekind (vgl. 1. 4 in Band 1).