Parallelogrammgleichung und Polarisation
Wir untersuchen den Zusammenhang zwischen Skalarprodukten und Normen genauer. Als erstes zeigen wir:
Satz (binomische Formeln, Polarisationsformel, Rekonstruktion aus der Norm)
Sei V ein euklidischer oder unitärer Vektorraum, und sei ∥ · ∥ die von 〈 ·, · 〉 induzierte Norm. Dann gelten für alle v, w ∈ V im Fall K = ℝ bzw. K = ℂ:
Binomische Formeln für ℝ bzw. ℂ
∥ v ± w ∥2 = ∥ v ∥2 ± 2〈 v, w 〉 + ∥ w ∥2 bzw.
∥ v ± w ∥2 = ∥ v ∥2 ± 2Re(〈 v, w 〉) + ∥ w ∥2.
Polarisationsformel für ℝ bzw. ℂ
4 〈 v, w 〉 = ∥ v + w ∥2 − ∥ v − w ∥2 bzw.
4 〈 v, w 〉 = ∥ v + w ∥2 − ∥ v − w ∥2 + i ∥ iv + w ∥2 − i ∥ iv − w ∥2.
Insbesondere sind Skalarprodukte, die dieselbe Norm induzieren, gleich.
Beweis
Es genügt, den allgemeineren unitären Fall K = ℂ zu betrachten. Nach den Eigenschaften eines Skalarprodukts gilt für alle v, w ∈ V:
∥ v ± w ∥2 | = 〈 v ± w, v ± w 〉 = 〈 v, v 〉 ± 〈 v, w 〉 ± 〈 w, v 〉 + 〈 w, w 〉 |
= ∥ v ∥2 ± 〈 v, w 〉 ± 〈 v, w 〉 + ∥ w ∥2 = ∥ v ∥2 ± 2 Re(〈 v, w 〉) + ∥ w ∥2. |
Mit Hilfe der binomischen Formeln erhalten wir
(+) 4 Re(〈 v, w 〉) = ∥ v + w ∥2 − ∥ v − w ∥2.
Die Formel (+) und die Darstellung
〈 v, w 〉 = Re(〈 v, w 〉) + i Im(〈 v, w 〉) = Re(〈 v, w 〉) + i Re(〈 iv, w 〉).
liefert die Polarisationsformel für ℂ. Sie zeigt, dass sich das Skalarprodukt aus der induzierten Norm rekonstruieren lässt. Hieraus ergibt sich der Zusatz.
Als dritte binomische Formel erhalten wir für K = ℂ:
〈 v + w, v − w 〉 = 〈 v, v 〉 + 〈 v, −w 〉 + 〈 w, v 〉 + 〈 w, −w 〉
= ∥ v ∥2 − 〈 v, w 〉 + 〈 v, w 〉 − ∥ w ∥2 = ∥ v ∥2 − 2i Im(〈 v, w 〉) − ∥ w ∥2.
Für K = ℝ reduziert sich die rechte Seite zu ∥ v ∥2 − ∥ w ∥2.
Durch den Satz erhebt sich die Frage, ob die Polarisationsformel ein Skalarprodukt nicht nur rekonstruieren, sondern sogar definieren kann. Dies ist genau dann der Fall, wenn eine gegebene Norm folgende Eigenschaft erfüllt:
Definition (Parallelogrammgleichung)
Eine Norm ∥ · ∥ auf V erfüllt die Parallelogrammgleichung, falls für alle v, w ∈ V gilt:
∥ v + w ∥2 + ∥ v − w ∥2 = 2∥ v ∥2 + 2∥ w ∥2.
Der Name der Identität ist durch die euklidische Ebene motiviert, vgl. das Diagramm. Es gilt nun:
Satz (Skalarprodukt = Norm + Parallelogrammgleichung)
Sei V ein K-Vektorraum mit K = ℝ oder K = ℂ. Dann gilt:
(a) | Ist 〈 ·, · 〉 : V × V → K ein Skalarprodukt auf V, so erfüllt die induzierte Norm die Parallelogrammgleichung. |
(b) | Ist ∥ · ∥ eine Norm auf V, die die Parallelogrammgleichung erfüllt, so wird durch die Polarisationsformel ein Skalarprodukt auf V definiert. Die von diesem Skalarprodukt induzierte Norm ist ∥ · ∥. |
Beweisskizze
zu (a): Folgt durch Addition aus den beiden binomischen Formeln
∥ v ± w ∥2 = ∥ v ∥2 ± 2 Re(〈 v, w 〉) + ∥ w ∥2.
zu (b): Wir nehmen K = ℂ an. Wird 〈 ·, · 〉 mit Hilfe der Polarisationsformel definiert, so gilt für alle v, w ∈ V:
(i) | 〈 v, v 〉 = ∥ v ∥2 und damit 〈 v, v 〉 > 0 für v ≠ 0, |
(ii) | 〈 v, w 〉 = 〈 w, v 〉, |
(iii) | 〈 i v, w 〉 = − i 〈 v, w 〉. |
Mit Hilfe der Parallelogrammgleichung weist man nun nach, dass 〈 v, w + w′ 〉 = 〈 v, w 〉 + 〈 v, w′ 〉. Nun zeigt man 〈 λv, w 〉 = λ〈 v, w 〉 schrittweise für Skalare λ in ℕ, ℤ, ℚ, ℝ. (Der letzte Schritt folgt aus der Stetigkeit der Funktionen f, g : ℝ → ℝ mit f (λ) = 〈 λ v, w 〉, g(λ) = λ 〈 v, w 〉).
Zusammen mit (i) bis (iii) sind dann alle Axiome eines Skalarprodukts gezeigt. Aus (i) ergibt sich der Zusatz.
Es ist bemerkenswert, dass sich Skalarprodukte durch Normen, die mit der Parallelogrammgleichung ein „viertes Axiom“ erfüllen, charakterisieren lassen. Ein Beweis oder eine Widerlegung dieses Axioms bringt ans Licht, ob eine Norm von einem Skalarprodukt abstammt oder nicht. Unter den p-Normen erfüllt zum Beispiel nur die 2-Norm die Parallelogrammgleichung.