Die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft und Folgenkompaktheit

 Für das Linearkontinuum hatten wir bereits beobachtet, dass sich viele Überdeckungsargumente durch Häufungspunktkonstruktionen ersetzen lassen und umgekehrt. Diesem Phänomen wollen wir nun genauer nachgehen. Wir definieren hierzu (vgl. auch den Ausblick zu 3. 3 in Band 1):

Definition (Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft, folgenkompakt)

Ein metrischer Raum (X, d)

(a)

hat die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft, falls jede unendliche Teilmenge P von X einen Häufungspunkt besitzt,

(b)

heißt folgenkompakt, falls jede Folge in (X, d) eine konvergente Teilfolge besitzt.

 Wie für  gilt:

Satz (Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft und Folgenkompaktheit)

Ein metrischer Raum (X, d) hat genau dann die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft, wenn er folgenkompakt ist.

 Wir werden zeigen, dass die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft und damit die Folgenkompaktheit äquivalent zur Kompaktheit ist. Eine erste Überraschung auf dem Weg zu diesem Ergebnis ist, dass die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft die Existenz einer abzählbaren dichten Teilmenge nach sich zieht:

Satz (Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft impliziert Separabilität)

Sei (X, d) ein metrischer Raum mit der Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft.

Dann ist (X, d) separabel.

Beweis

Wir zeigen zunächst:

(+)  Für alle ε > 0 ist die offene Überdeckung { Uε(x) | x  ∈  X } von X endlich reduzierbar.

Beweis von (+)

Annahme nicht für ein ε. Dann können wir rekursiv definieren:

xn  =  „ein Element von X − ⋃k < n Uε(xk)“,

denn die Menge auf der rechten Seite ist nach Annahme nichtleer. Nach Konstruktion ist P = { xn | n  ∈   } unendlich und P ∩ Uε(xn) = { xn } für alle n. Dann gilt aber P′ = ∅ (denn für x  ∈  P′ und xn mit d(xn, x) < ε/2 wäre Uε(xn) ∩ P ⊇ Uε/2(x) ∩ P unendlich), Widerspruch.

Nach (+) existiert für alle n ≥ 1 ein endliches En ⊆ X mit

X  =  ⋃x  ∈  En U1/n(x).

Dann ist D = ⋃n En abzählbar. Weiter gilt:

(++)  D ist dicht in X.

Denn seien p  ∈  X und ε > 0. Dann gibt es ein n ≥ 1 mit 1/n ≤ ε und ein x  ∈  En ⊆ D mit p  ∈  U1/n(x). Dann gilt d(p, x) < 1/n ≤ ε, sodass x  ∈  Uε(p). Also ist D ∩ Uε(p) ≠ ∅.

 In separablen metrischen Räumen gilt automatisch eine abzählbare Reduktionseigenschaft für offene Überdeckungen:

Satz (abzählbare Reduzierbarkeit in separablen metrischen Räumen)

Sei (X, d) separabel, und sei 𝒰 eine offene Überdeckung von X. Dann ist 𝒰 abzählbar reduzierbar, d. h., es gibt ein abzählbares 𝒱 ⊆ 𝒰, das X überdeckt.

Beweis

Sei  eine abzählbare Basis von (X, d). Wir setzen

𝒜  =  { B  ∈   | es gibt ein U  ∈  𝒰 mit B ⊆ U }.

Für alle B  ∈  𝒜 sei dann

UB  =  „ein U  ∈  𝒰 mit B ⊆ U“.

Wir betrachten nun die abzählbare Menge

𝒱  =  { UB | B  ∈  𝒜 }  ⊆  𝒰.

Dann ist 𝒱 eine Überdeckung von X. Denn ist x  ∈  X, so gibt es ein U  ∈  𝒰 mit x  ∈  U. Da  eine Basis ist, gibt es ein B  ∈   mit x  ∈  B und B ⊆ U. Dann ist B  ∈  𝒜 und also B ⊆ UB  ∈  𝒱. Also ist x  ∈  ⋃ 𝒱.

 Nach diesen Vorbereitungen können wir nun zeigen:

Satz (Charakterisierung der Kompaktheit in metrischen Räumen)

Sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann sind äquivalent:

(a)

(X, d) ist kompakt.

(b)

(X, d) hat die Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft.

Beweis

(a) impliziert (b):  Sei P ⊆ X mit P′ = ∅. Wir zeigen (wie schon früher für ), dass P endlich ist. Aus P′ = ∅ folgt, dass P abgeschlossen und damit kompakt ist, und dass für alle p  ∈  P ein ε(p) > 0 existiert mit

(+)  Uε(p)(p)  ∩  P  =  { p }.

Das System 𝒰 = { Uε(p)(p) | p  ∈  P } ist eine offene Überdeckung von P. Also existieren p1, …, pn  ∈  P mit

P  ⊆  Uε(p1)(p1)  ∪  …  ∪  Uε(pn)(pn).

Nach (+) ist dann aber P = { p1, …, pn }.

(b) impliziert (a):Annahme, X ist nicht kompakt. Dann existiert nach den vorangehenden Sätzen eine abzählbare offene Überdeckung 𝒰 von X, die nicht endlich reduzierbar ist. Sei

𝒰  =  { Un | n  ∈   }.

Durch Ersetzen von Un durch ⋃k ≤ n Uk und Streichen von Wiederholungen erreichen wir U0 ⊂ U1 ⊂ … ⊂ Un ⊂ … Wir definieren nun

xn  =  „ein Element von Un + 1 − Un“  für alle n  ∈  ,

P  =  { xn | n  ∈   }.

analysis2-AbbID411

{ xn | n  ∈   } hat keinen Häufungspunkt

Dann ist P unendlich und P ∩ Un endlich für alle n. Folglich ist

P′ ∩ Un = ∅  für alle n.

Wegen ⋃nUn = X ist also P′ = ∅, im Widerspruch zur Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft von (X, d).

 Aus dem Satz folgt:

Korollar (Kompaktheit impliziert Separabilität und Vollständigkeit)

Jeder kompakte metrische Raum (X, d) ist separabel und vollständig.

Beweis

Die Separabilität folgt aus der Bolzano-Weierstraß-Eigenschaft. Ist (xn)n ∈  eine Cauchy-Folge in (X, d), so besitzt (xn)n ∈  aufgrund der Folgenkompaktheit des Raumes eine konvergente Teilfolge (yn)n ∈ . Sei y = limn yn. Dann gilt auch y = limn xn, da (xn)n ∈  eine Cauchy-Folge ist.

 Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht: (, deuk) ist separabel und vollständig, aber nicht kompakt.

 Ist (X, d) ein kompakter metrischer Raum, so ist (X, e) vollständig für jede zu d äquivalente Metrik e auf X. Denn die Kompaktheit eines Raumes bleibt beim Wechsel zu e erhalten und kompakte metrische Räume sind vollständig. Der Leser vergleiche dies noch einmal mit der unvollständigen euklidischen Metrik und der vollständigen Tangensmetrik auf dem Intervall ] − π/2, π/2 [.

 Dass die Kompaktheit die Vollständigkeit impliziert, können wir auch ohne Übergang zur Folgenkompaktheit durch ein einfaches Überdeckungsargument einsehen:

Zweiter Beweis der Vollständigkeit kompakter Räume

Ist (X, d) unvollständig, so gibt es eine divergente Cauchy-Folge (xn)n ∈ . Dann ist An = { xm | m ≥ n } abgeschlossen für alle n (da An′ = ∅) und 𝒰 = { X − An | n  ∈   } ist eine nicht endlich reduzierbare offene Überdeckung von X. Also ist (X, d) nicht kompakt.