Rektifizierbarkeit und beschränkte Variation

 Bei unserer Untersuchung der integrierbaren Funktionen hatten wir die Variation var(f)  ∈  [ 0, ∞ ] einer Funktion f : [ a, b ]   durch

var(f)  =  sup({ k ≤ n |f (tk + 1) − f (tk)| | (tk)k ≤ n ist eine Partition von [ a, b ] })

definiert und gezeigt, dass eine Funktion mit beschränkter Variation integrierbar ist. Wir erweitern den Begriff nun auf Funktionen, die Werte im n annehmen.

Definition (Variation, beschränkte Variation)

Für f : [ a, b ]  n definieren wir die (totale) Variation von f durch

var(f)  =  sup({ k ≤ n∥ f (tk + 1) − f (tk) ∥ | (tk)k ≤ n ist eine Partition von [ a, b ] }).

f heißt von beschränkter Variation oder eine bv-Funktion, falls var(f) < ∞.

 Im Vergleich zur alten Definition werden also die Betragsstriche durch die euklidische Norm im n ersetzt. Der enge Zusammenhang zwischen der Variation und der Länge für Kurven f ist augenfällig, denn nach Definition gilt:

var(f)  =  supp Lp f.

In der Tat sind „Länge“ und „Variation“ für Kurven identisch:

Satz (Rektifizierbarkeit und beschränkte Variation)

Sei f : [ a, b ]  n eine Kurve. Dann sind äquivalent:

(a)

f ist rektifizierbar.

(b)

f ist eine bv-Funktion.

In diesem Fall gilt L(f) = var(f).

Beweis

(a) impliziert (b):  Sei (pn)n  ∈   eine Folge von Partitionen mit limn δ(pn) = 0 derart, dass

limn Lpnf  =  var(f)  ≤  ∞.

Da f rektifizierbar ist, gilt limn Lpnf = L(f) < ∞. Also ist var(f) < ∞ und zudem var(f) = L(f).

(b) impliziert (a):  Wir zeigen, unter Verwendung der gleichmäßigen Stetigkeit von f, die Rektifizierbarkeitsbedingung für c = var(f) < ∞. Sei also ε > 0. Da Lpf ≤ var(f) für alle Partitionen p gilt, genügt es, ein δ > 0 zu finden, sodass für alle Partitionen p von [ a, b ] der Feinheit δ gilt:

(+)  var(f)  −  ε  <  Lpf.

Sei p* eine Partition von [ a, b ] der Länge m mit

var(f)  −  Lp*(f)  <  ε2.

Weiter sei δ > 0 derart, dass für alle x, y  ∈  [ a, b ] mit |x − y| < δ gilt:

∥ f (x)  −  f (y) ∥  <  ε4m.

Sei nun p eine beliebige Partition von [ a, b ] der Feinheit δ > 0. Die Partition p**, die durch die Zerlegungspunkte von p und p* gebildet wird, ist eine Partition der Feinheit δ, und es gilt

Lp* f  ≤  Lp**f  ≤  Lpf  +  2m ε4m  =  Lpf  +  ε2,

denn die m Zerlegungspunkte von p* tauchen in höchstens 2m Summanden von Lp**f auf. Dann ist aber wie gewünscht

var(f)  −  ε  =  var(f) − Lp*f  +  Lp*f  −  ε  <  ε/2  +  Lpf  −  ε/2  =  Lpf.

 Der Satz liefert für ein stetiges f : [ a, b ]   eine neue Interpretation der Variation: Die reelle Zahl var(f) ist die Länge der Kurve g : [ a, b ]  2 mit

g(t)  =  (0, f (t))  für alle t  ∈  [ a, b ],

also die von einem Punkt in der Zeit [ a, b ] zurückgelegte Strecke, der sich gemäß g auf der y-Achse von f (a) nach f (b) bewegt. Diese Kurve können wir als die Projektion von f auf die y-Achse interpretieren.

 Da var(f) = var(f ∘ φ) für eine stetige Bijektion φ : [ c, d ]  [ a, b ] gilt, liefert der Satz noch einmal die Unabhängigkeit der Länge einer Kurve von der Parametrisierung. Weiter zeigt er:

Korollar (Vektorraum-Struktur und Umfang der rektifizierbaren Kurven)

Die n-dimensionalen rektifizierbaren Kurven auf [ a, b ] bilden einen Vektorraum, der die Lipschitz-stetigen und damit die stetig differenzierbaren Kurven umfasst.

 Dass mit zwei Kurven f, g auch f + g rektifizierbar ist, ist mit Variation leicht einzusehen. Die Rektifizierbarkeitsbedingung erscheint hier weniger geeignet.

 Wir beweisen nun noch die Längenformel. Hierzu sind einige Abschätzungen für integrierbare Kurven nützlich. Das Integral einer Kurve f : [ a, b ]  n definieren wir dabei wie für komplexwertige Funktionen komponentenweise, d. h., wir setzen

baf (t) dt  =  ( baf1(t) dt,  …,  bafn(t) dt )    ∈   n.

 Aus der Cauchy-Schwarz-Ungleichung folgt, dass für alle integrierbaren Funktionen f : [ a, b ]  n gilt:

∥ baf (t) dt ∥  ≤  ba∥ f (t) ∥ dt.

Denn ist 〈 v, w 〉 = k ≤ n vk wk das kanonische Skalarprodukt im n, so gilt für

v  =  baf (t) dt   ∈  n

die Abschätzung

∥ v ∥2 =  〈 v, v 〉  =  〈  baf (t) dt, v 〉  =  ba〈 f (t), v 〉 dt
≤ Cauchy−Schwarzba∥ f (t) ∥ ∥ v ∥ dt  =  ∥ v ∥  ba∥ f (t) ∥ dt.

Eine Abschätzung in der anderen Richtung liefert der folgende Satz.

Satz (Normabschätzung)

Sei f : [ a, b ]  n stetig. Dann existiert für alle ε > 0 ein δ > 0, sodass für alle [ c, d ] ⊆ [ a, b ] mit d − c ≤ δ gilt:

dc∥ f (t) ∥ dt  ≤  ∥ dcf (t) dt ∥  +  ε(d − c).

Beweis

Sei ε > 0. Da f gleichmäßig stetig ist, gibt es ein δ > 0, sodass

∥ f (t) − f (c) ∥  ≤  ε/2  für alle t, c  ∈  [ a, b ] mit |t − c| ≤ δ.

Dann gilt für alle [ c, d ] ⊆ [ a, b ] mit d − c ≤ δ:

dc∥ f (t) ∥ dt ≤  dc ∥ f (c) ∥  +  ε2  dt  =  ∥ dc f (c) dt ∥  +  ε (d − c)2
=  ∥ dc f (t)  +  f (c)  −  f (t) dt ∥  +  ε (d − c)2
≤  ∥ dc f (t) dt ∥  +  dc ∥ f (c)  −  f (t)∥ dt  +  ε (d − c)2
≤  ∥ dc f (t) dt ∥  +  ε (d − c)2  +  ε (d − c)2
=  ∥ dc f (t) dt ∥  +  ε (d − c).

 Damit können wir nun die Berechnungsformel beweisen:

Satz (Längensatz)

Sei f : [ a, b ]  n stetig differenzierbar. Dann ist f rektifizierbar und

L(f)  =  var(f)  =  ba ∥ f ′(t)∥ dt.

Beweis

Für jede Partition p = (tk)k ≤ n gilt nach dem Hauptsatz:

Lp f =  k ≤ n ∥ f(tk + 1) − f (tk) ∥  =  k ≤ n ∥ tk + 1tk f ′(t) dt ∥
≤  k ≤ n  tk + 1tk ∥ f ′(t) ∥ dt  =  ba ∥ f ′(t) ∥ dt,  sodass
var(f) =  supp Lp f  ≤  ba ∥ f ′(t) ∥ dt.

Für die andere Ungleichung sei ε > 0. Weiter sei δ > 0 wie im Satz über die Normabschätzung für die stetige Funktion f ′. Ist nun p = (tk)k ≤ n eine Partition der Feinheit δ, so gilt

ba∥ f ′(t) ∥ dt  =  k ≤ n  tk + 1tk ∥ f ′(t) ∥ dt
≤  k ≤ n ( ∥ tk + 1tk f ′(t) dt ∥  +  ε (tk + 1 − tk))
=  k ≤ n ∥ f(tk + 1) − f (tk) ∥  +  ε (b − a)  =  Lp f  +  ε (b − a).

Da dies für alle ε > 0 gilt, ist

var(f)  =  supp Lp f  ≥  ba∥ f ′(t) ∥ dt.

 Im Fall n = 1 lässt sich der Satz mit Hilfe des Mittelwertsatzes der Differentialrechnung elegant beweisen:

Einfacher Beweis des Satzes für n = 1

Für jede Partition p = (tk)k ≤ n seien xk  ∈  [ tk, tk + 1 ] mit

f (tk + 1) − f (tk)tk + 1 − tk  =  f ′(xk)  für alle k ≤ n.

Dann gilt für die um die Stützstellen (xk)k ≤ n ergänzte Partition p:

Lpf =  k ≤ n |f(tk + 1) − f (tk)|  =  k ≤ n  tk + 1tk|f (tk + 1) − f (tk)|tk + 1 − tk dt
=  k ≤ n |f ′(xk)| (tk + 1 − tk)  =  p |f ′|.

Ist nun pn eine Folge von Partitionen mit L(f) = var(f) = supn Lpn f und limn δ(pn) = 0, so gilt aufgrund der Integrierbarkeit von |f ′|, dass

var(f)  =  limn Lpnf  =  limn pn|f ′|  =  ba|f ′(t)| dt.

 Für Funktionen, die Werte im n, n ≥ 2, annehmen, steht der Mittelwertsatz nicht mehr zur Verfügung (vgl. die Übungen).

Erweiterung des Ergebnisses

 Die Voraussetzung der stetigen Differenzierbarkeit ist manchmal etwas zu eng, da zum Beispiel eine Kurve f : [ 0, 1 ]  2, die das Einheitsquadrat der Ebene in konstanter Geschwindigkeit durchläuft, nicht stetig differenzierbar ist. Es ist deswegen günstig, endlich viele „Knicke“ zuzulassen. Wir definieren in Analogie zur stückweisen Stetigkeit:

Definition (stückweise differenzierbar)

Eine Funktion f : [ a, b ]  n heißt stückweise (stetig) differenzierbar, falls eine Partition p = (tk)k ≤ n von [ a, b ] existiert, sodass für alle k ≤ n gilt:

f] tk, tk + 1 [ besitzt eine (stetig) differenzierbare Fortsetzung nach [ tk, tk + 1 ].

 Eine stückweise differenzierbare Funktion muss nicht stetig sein. Ist f jedoch stetig (also eine Kurve), so können wir uns f als eine Aneinanderreihung von endlich vielen differenzierbaren Kurven vorstellen. Endzeit und Endpunkt sind dabei Startzeit und Startpunkt der folgenden Kurve.

 Aufgrund der Aufspaltungseigenschaft des Integrals können wir über reellwertige stückweise stetig differenzierbare Funktionen freizügig integrieren, auch wenn diese Ableitung an endlich vielen Stellen nicht definiert ist. Wir schreiben also zum Beispiel kurz

ba ∥ f ′(x) ∥ dx  für  k ≤ n  tk + 1tk ∥ fk′(x) ∥ dx,

wobei fk die stetig differenzierbare Fortsetzung von f] tk, tk + 1 [ nach [ tk, tk + 1 ] ist.

 Die Längenformel gilt, wie leicht zu sehen ist, in verallgemeinerter Form:

Satz (Längensatz, II)

Sei f : [ a, b ]  n eine stückweise stetig differenzierbare Kurve. Dann gilt

L(f)  =  var(f)  =  ba∥ f ′(t)∥ dt.