Bogenlängen-Kurven
Wir betrachten folgenden Kurventyp:
Definition (Bogenlängen-Kurve)
Sei f : [ a, b ] → ℝn stetig differenzierbar. Dann heißt f eine Bogenlängen-Kurve oder nach der Bogenlänge parametrisiert falls
∥ f ′(t) ∥ = 1 für alle t ∈ [ a, b ].
Die Längenberechnung wird trivial: Nach der Längenformel gilt
L(f) = ∫ba ∥ f ′(t) ∥ dt = ∫ba 1 dt = b − a.
Da der Betrag der Geschwindigkeit konstant gleich 1 ist, wird aus „Weg ist Geschwindigkeit mal Zeit“ einfach „Weg ist Zeit“. Wir können uns die Spur einer Bogenlängen-Kurve als stetige Verbiegung des Intervalls I = [ a, b ] vorstellen (ohne Streckung und Stauchung).
Eine wichtige Beobachtung ist:
Satz (Orthogonalität der Ableitungen für Bogenlängen-Kurven)
Sei f : [ a, b ] → ℝn eine zweimal differenzierbare Bogenlängen-Kurve. Dann gilt 〈 f ′(t), f ″(t) 〉 = 0 für alle t ∈ I.
Beweis
Sei t ∈ [ a, b ]. Dann gilt:
0 = ddt 1 | = ddt ∥ f ′(t) ∥2 |
= ddt (f1′(t)2 + f2′(t)2) | |
= 2 f1′(t) f1″(t) + 2 f2′(t) f2″(t) | |
= 2 〈 f ′(t), f ″(t) 〉 |
Dies zeigt die Behauptung.
Bei einer Bogenlängen-Kurve steht der Beschleunigungsvektor f ″(t) also stets senkrecht auf dem normierten Geschwindigkeitsvektor f ′(t). Es findet keine tangentiale Beschleunigung statt, sondern nur eine Richtungsänderung. Damit eignen sich sich diese Kurven zur Einführung des Krümmungsbegriffs für Kurven. Bevor wir dies durchführen, zeigen wir, dass sich Kurven unter milden Voraussetzungen immer nach der Bogenlänge parametrisieren lassen:
Satz (Umparametrisierung nach der Bogenlänge)
Sei f : I → ℝn stetig differenzierbar und regulär mit I = [ a, b ]. Weiter sei ψ : I → ℝ definiert durch
ψ(t) = ∫ta ∥ f ′(s) ∥ ds für alle t ∈ [ a, b ]. (Bogenlängenfunktion)
Seien J = ψ[ I ] = [ 0, L(f) ], φ = ψ−1 : J → I und g = f ∘ φ : J → ℝn. Dann ist g eine orientierungserhaltende Umparametrisierung von f nach der Bogenlänge. Die Funktionen ψ, φ sind streng monoton steigend und positiv und erben die Differenzierbarkeitseigenschaften von f.
Beweis
Sei s ∈ J. Die Ableitungsregeln und der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung zeigen:
(1) | φ′(s) = 1ψ′(φ(s)) = 1∥ f ′(φ(s)) ∥, |
(2) | ∥ g′(s) ∥ = ∥ φ′(s) f ′(φ(s)) ∥ = 1. |
Der Rest ist klar.
Bemerkung
Die Umparametrisierung φ des Satzes ist im folgenden Sinne eindeutig bestimmt: Für eine orientierungserhaltende Umparametrisierung
h = f ∘ χ
von f nach der Bogenlänge und g = f ∘ φ wie im Satz gilt
h = g ∘ ψ mit ψ = φ−1 ∘ χ.
Für alle t gilt 1 = ∥ h′(t) ∥ = ∥ ψ′(t) g′(ψ(t)) ∥ = |ψ′(t)| und ψ′(t) > 0, sodass ψ′(t) = 1. Damit gibt es ein t0 mit ψ(t) = t0 + t für alle t. Also gilt
χ(t) = φ(t0 + t) für alle t.
Bis auf eine Intervallverschiebung ist also φ eindeutig.
Eine einfache Berechnung der Bogenlängen-Kurve g des Satzes ist nur selten möglich. Das zur Definition von ψ verwendete Integral enthält Wurzeln, und zudem ist auch noch die Umkehrfunktion zu bestimmen. Das Ergebnis des „Ablaufens einer Spur mit konstanter Geschwindigkeit“ ist aber sehr anschaulich, und der kurze Beweis ist ein Paradebeispiel für die Stärke des Hauptsatzes. Die Funktion ψ wächst an Stellen t, an denen die Kurve f eine hohe (niedrige) Geschwindigkeit aufweist schnell (langsam). Durch ψ wird das Definitionsintervall I durch Dehnen und Stauchen zu einem Intervall J = [ 0, L(f) ] verformt. Schalten wir der Kurve f die Umkehrfunktion φ = ψ−1 vor, so wird die Norm der Geschwindigkeit auf den konstanten Wert 1 eingestellt.