Die Krümmung einer ebenen Kurve

 Wir führen nun den Krümmungsbegriff für Kurven ein, wobei wir uns auf Kurven in der Euklidischen Ebene 2 beschränken. Dadurch verallgemeinern wir die Diskussion der Krümmungskreise für Funktionen im ersten Band.

 Die Bogenlängen-Kurven bilden einen guten Startpunkt:

Definition (Krümmung einer Bogenlängen-Kurve)

Sei f : I  2 eine zweimal differenzierbare Bogenlängen-Kurve. Weiter sei t  ∈  I. Dann heißt

k  =  σ ∥ f ″(t) ∥  mit  σ  =  sgn(det(f ′(t), f ″(t)))  ∈  { 1, 0, −1 }

die signierte Krümmung von f an der Stelle t. Wir setzen zudem κ = |k|.

 Es ist nützlich, der Krümmung ein Vorzeichen mitzugeben (in Analogie und zu „rechtsgekrümmt“ bzw. „linksgekrümmt“ für reelle Funktionen):

Das Vorzeichen der Krümmung

Das Vorzeichen σ entspricht der Orientierung der Vektoren f ′(t) und f ″(t). Ein Vektor v ≠ 0 der Ebene definiert je eine linke und rechte offene Halbebene: Ein Vektor u liegt links (rechts) von v, wenn wir û durch eine Drehung von v̂ um einen Winkel ] 0, π [ gegen (im) Uhrzeigersinn erreichen (die Punkte auf span(v) liegen weder links noch rechts). Entsprechend ist das Vorzeichen σ positiv (negativ), wenn f ″(t) links (rechts) von f ′(t) liegt. Die Kurve biegt sich, wenn wir an der Stelle f (t) in Richtung f ′(t) blicken, nach links bzw. rechts. Nach obiger Überlegung steht f ″(t) senkrecht auf f ′(t), sodass wir mit der Normiertheit der ersten Ableitung erhalten:

f ″(t)  =  k rotπ/2(f ′(t))  mit  rotπ/2((x, y)) = (−y, x)

Die Krümmung eines Kreises

Ein zentrischer Kreis Kr mit Radius r wird durch f : [ 0, 2r π ]  2 mit

f (t)  =  r (cos(ωt), sin(ωt))  mit  ω = 1/r

parametrisiert. Dies ist eine Parametrisierung nach der Bogenlänge, da

∥ f ′(t) ∥  =  ∥ r ω (− sin(ωt), cos(ωt)) ∥  =  ∥ r ω ∥  =  1  für alle t.

Für die zweite Ableitung erhalten wir

∥ f ″(t) ∥  =  ∥ r ω2 (− cos(ωt), − sin(ωt)) ∥  =  ∥ r ω2 ∥  =  1/r  für alle t.

Es gilt σ = 1, sodass k = 1/r für alle t, in Übereinstimmung mit der geometrischen Begriffsbildung für die Krümmung eines Kreises. Durchlaufen wir den Kreis im Uhrzeigersinn, so erhalten wir k = − 1/r für alle t.

 Wir definieren:

Definition (Krümmungsradius, Krümmungskreis)

Sei f : I  2 eine zweimal differenzierbare Bogenlängen-Kurve. Weiter sei t  ∈  I mit k = k(t) ≠ 0. Dann setzen wir (mit κ = |k|):

r  =  1/κ

M  =  f (t)  +  sgn(k) r rotπ/2(f ′(t))  =  f (t)  +  1/k rotπ/2(f ′(t))

Wir nennen r den Krümmungsradius und den Kreis Kr, M mit Radius r und Mittelpunkt M den Krümmungskreis von f an der Stelle t.

 Den Krümmungskreis erhalten wir so: Wir legen an den Punkt f (t) einen Kreis mit Radius r = 1/κ derart an, dass der Radiusvektor f (t) − M senkrecht auf dem normierten Geschwindigkeitsvektor steht und der Mittelpunkt M des Kreises in der dem Vorzeichen von k entsprechenden Halbebene liegt. Ist g : J  2 eine Parametrisierung dieses Kreises nach der Bogenlänge und s  ∈  J derart, dass g(s) = f (t), so stimmen die ersten und zweiten Ableitungen von f und g an der Stelle t bzw. s nach Konstruktion überein. In diesem Sinne ist der Krümmungskreis die bestmögliche Kreis-Approximation an die Kurve.

Der allgemeine Fall

 Sei f : I  2 eine zweimal stetig differenzierbare reguläre Kurve. Nach dem obigen Satz gibt es eine zweimal stetig differenzierbare Bijektion φ : J  I, sodass gilt:

(i)

g = f ∘ φ : J  2 ist eine Bogenlängenkurve,

(ii)

φ′(s) > 0  für alle s  ∈  J.

Wir verwenden im Folgenden nur diese Eigenschaften. Die Integral-Konstruktion von φ wird nicht benötigt.

Herleitung der allgemeinen Krümmungsformel

Sei t  ∈  I. Weiter sei s = φ−1(t)  ∈  J, sodass t = φ(s) und g(s) = f (t). Dann gilt nach den Ableitungsregeln:

(1)

g′(s)  =  φ′(s) f ′(φ(s))  =  φ′(s) f ′(t)

(2)

g″(s)  =  φ′(s)2 f ″(φ(s)) + φ″(s) f ′(φ(s))  =  φ′(s)2 f ″(t) + φ″(s) f ′(t)

Wir setzen c = ∥ f ′(t) ∥ ≠ 0. Nach (i), (ii) und (1) gilt:

(3)

φ′(s)  =  1/c

(4)

〈 g′(s), g″(s) 〉  =  0,  〈 f ′(t), g″(s) 〉  =  0

Aus (2), (3) und (4) ergeben sich:

〈 f ′(t),  φ′(s)2 f ″(t) + φ″(s) f ′(t) 〉  =  0,

φ′(s)2 〈 f ′(t), f ″(t) 〉  +  φ″(s) 〈 f ′(t), f ′(t) 〉  =  0,

c−2 〈 f ′(t), f ″(t) 〉  +  φ″(s) c2  =  0.

Auflösen nach der zweiten Ableitung von φ zeigt, dass

φ″(s)  =  − 〈 f ′(t), f ″(t) 〉c4.

Einsetzen in (2) liefert (mit (x, y) = (x, y, 0)  ∈  3)

c4 g″(s) =  c2 f ″(t)  −  〈 f ′(t), f ″(t) 〉 f ′(t)
=  〈 f ′(t), f ′(t) 〉 f ″(t)  −  〈 f ′(t), f ″(t) 〉 f ′(t)(Grassmann-Identität)
=  f ′(t) × (f ″(t) × f ′(t))
=  (f ′(t) × f ″(t)) × f ′(t).

Damit gilt

c4 ∥ g″(s) ∥  =  |det(f ′(t), f ″(t))| c,

denn die Länge eines Kreuzprodukts ist der Flächeninhalt des von seinen Vektoren aufgespannten Parallelogramms. Nach (4) steht g″(s) senkrecht auf g′(s) (und g′(s) ist parallel zu f ′(t)). Die Rechte-Hand-Regel ergibt

(+)  g″(s)  =  det(f ′(t), f ″(t))c3 rotπ/2(g′(s)).

Vermeidung des Kreuzprodukts

Der Umweg in den 3 lässt sich vermeiden: Der Vektor

v  =  c4 g″(s)  =  c2 f ″(t)  −  〈 f ′(t), f ″(t) 〉 f ′(t)

steht senkrecht auf f ′(t). Mit δ = det(f ′(t), f ″(t)) ergibt sich unter Verwendung der Lagrange-Identität:

〈 c4 g″(s), f ″(t) 〉  =  c2 〈 f ″(t), f ″(t) 〉 − 〈 f ′(t), f ″(t) 〉2  = (Lagrange)  δ2  ≥  0,

∥v∥2  =  〈 v, v 〉  =  c2 δ2  (da 〈 g″(s), f ′(t) 〉 = 0 nach (4)),

∥v∥  =  c |δ|.

Dadurch ergibt sich erneut (+). Im Fall δ ≠ 0 gilt 〈 g″(s), f ″(t) 〉 = δ2 > 0, sodass der Winkel zwischen diesen Vektoren im Intervall ] 0, π/2 ] liegt. Damit liefert det(f ′(t), f ″(t)) das korrekte Vorzeichen.

 Zusammenfassend definieren wir:

Definition (Krümmung, Krümmungsradius, Krümmungskreis)

Sei f : I  2 eine zweimal stetig differenzierbare reguläre Kurve. Weiter sei t  ∈  I. Wir setzen c = ∥ f ′(t) ∥ und

k  =  det(f ′(t), f ″(t))c3.(signierte Krümmung)

Weiter sei κ = |k|. Im Fall k ≠ 0 setzen wir

r  =  1κ,(Krümmungsradius)

M  =  f (t)  +  sgn(k) r rotπ/2(f ′(t)c).(Krümmungskreismittelpunkt)

Der Kreis Kr, M heißt der Krümmungskreis von f an der Stelle t.

Bemerkung

Die Formel für den Mittelpunkt können wir wie folgt notieren:

M  =  f (t)  +  c2det(f ′(t), f ″(t)) rotπ/2(f ′(t))

 Aus unserer Herleitung der Krümmungsformel ergibt sich, dass die Krümmung (und im Fall der Existenz der Krümmungskreis) bei jeder orientierungserhaltenden Umparametrisierung der Kurve erhalten bleibt. Bei einer Änderung der Durchlaufrichtung ändert die Krümmung ihr Vorzeichen.

Erweiterung der Formeln für Funktionen

Wir zeigen noch, dass unsere Formeln für Kurven die Formeln für Funktionen aus dem ersten Band erweitern. Ist f : [ a, b ]   zweimal stetig differenzierbar, so ist die Kurve g : [ a, b ]  2 mit g(t) = (t, f (t)) zweimal stetig differenzierbar und regulär mit

g′(t)  =  (1, f ′(t)),  g″(t)  =  (0, f ″(t))  für alle t  ∈  [ a, b ].

Für jedes t  ∈  [ a, b ] ergeben sich also mit

c  =  ∥ g′(t)) ∥  =  1+f ′2(t),  rotπ/2(g′(t)/c)  =  1c (− f ′(t), 1)

und det(g′(t), g″(t)) = f ″(t) die früheren Formeln:

k  =  f ″(t)c3,  r  =  1|k|  =  1κ(Krümmung, Krümmungsradius)

M  =  (t, f (t))  +  c2f ″(t) (− f ′(t), 1)(Krümmungskreismittelpunkt)