Ausblick: Gegenbeispiele
Wir betrachten einige Gegenbeispiele, die den Zusammenhang zwischen totaler und partieller Differenzierbarkeit und die Voraussetzung der stetigen partiellen Differenzierbarkeit in unseren Ergebnissen beleuchten. Wir beginnen mit einer einfachen Beobachtung.
Beispiel 1: Unstetig, aber im Nullpunkt partiell differenzierbar
Sei f : ℝ2 → ℝ definiert durch
Die Funktion f ist auf den Achsen gleich 0 und sonst überall gleich 1.
Sie ist im Nullpunkt partiell differenzierbar mit ∂1f (0) = ∂2f (0) = 0, aber dort unstetig.
Das Beispiel zeigt, dass die partielle Differenzierbarkeit in einem Punkt nicht einmal die Stetigkeit und damit sicher nicht die totale Differenzierbarkeit impliziert. Die Funktion ist allerdings nicht wirklich überzeugend, da sie in keinem von 0 verschiedenen Achsenpunkt partiell differenzierbar ist. Interessanter wäre eine überall partiell differenzierbare Funktion, die trotzdem unstetig ist. Eine solche gibt es:
Beispiel 2: Unstetig, aber partiell differenzierbar
Sei f : ℝ2 → ℝ definiert durch f (0) = 0 und
f(x, y) = 2x yx2 + y2 für alle (x, y) ≠ 0.
Die Funktion ist 0 auf den Achsen. Ist a ∈ ℝ beliebig, so gilt
f(x, ax) = 2a1 + a2 ∈ [ −1, 1 ] für alle x ≠ 0.
Die Höhenlinien von f sind also punktierte Geraden durch den Ursprung. Der Graph der Funktion entsteht außerhalb des Nullpunkts anschaulich wie folgt:
Wir rotieren die punktierte x-Achse gegen den Uhrzeigersinn und heben und senken sie dabei an und ab. Dabei erreichen wir die Höhen
1 bei π/4, 0 bei π/2, −1 bei 3/4π, 0 bei π.
Die folgenden Diagramme visualisieren die Funktion f durch 3D-Plots und einen Kontur-Plot.
In den beiden 3D-Plots der Funktion f wurde links ein kartesisches und rechts ein polares Gitter verwendet. Der Aufbau durch „Rotation mit Anheben und Absenken der x-Achse“ wird polar deutlicher. Die Radiallinien des polaren 3D-Plots bilden eine Wendeltreppe.
Nach dem Differenzierbarkeitskriterium ist eine stetig partiell differenzierbare Funktion differenzierbar. Beispiel 2 zeigt, dass wir „stetig“ nicht streichen können. Die folgende Frage ist aber noch unbeantwortet:
Impliziert die Stetigkeit der Funktion und ihre partielle
Differenzierbarkeit die totale Differenzierbarkeit?
Die Funktion f in Beispiel 2 erzwingt ja die Nichtdifferenzierbarkeit durch eine Unstetigkeitsstelle. Eine um eine Potenz schnellere Konvergenz gegen 0 im Zähler zeigt jedoch, dass die Frage zu verneinen ist:
Beispiel 3: Stetig und partiell differenzierbar, aber nicht differenzierbar
Sei f : ℝ2 → ℝ definiert durch f (0) = 0 und
f(x, y) = 2x2 yx2 + y2 für alle (x, y) ≠ 0.
Nachrechnen zeigt, dass f partiell differenzierbar ist. Die Differenzierbarkeit im Nullpunkt ist dagegen nicht gültig, da die Geraden durch 0 im Graphen von f durch ihre unterschiedlichen Steigungen die Restbedingung an r(x) verletzen. Es ist instruktiv, dies anhand der Definition zu überprüfen: Wäre f differenzierbar im Nullpunkt, so wäre
Jf(0) = (∂xf (0), ∂yf (0)) = (0 0).
Dann wäre aber
lim(x, y) → 0 | f (x, y) − f (0, 0) − Jf(0) (x, y) |∥ (x, y) ∥ = | f (x, y) |∥ (x, y) ∥ = 0,
sodass speziell
0 = limx ↓ 0 |f (x, x)|∥ (x, x) ∥ = limx ↓ 0 2x32 x2 ∥ (x, x) ∥ = .
Insgesamt ist also f stetig und partiell differenzierbar, aber im Nullpunkt nicht total differenzierbar (und nicht stetig partiell differenzierbar).
Wegen f(x, ax) = 2a/(1 + a2)x bildet f eine Gerade der Ebene durch 0 auf eine Gerade im Raum durch 0 ab, was man im polaren 3D-Plot gut erkennen kann. Der Graph von f entsteht also durch eine gewisse dreidimensionale Rotation der x-Achse um den Nullpunkt.
Die Voraussetzung der stetigen Differenzierbarkeit ist auch im Satz von Schwarz über die Vertauschung von partiellen Ableitungen notwendig:
Beispiel 4: Verschiedene gemischte zweite partielle Ableitungen
Sei f : ℝ2 → ℝ definiert durch f (0) = 0 und
f(x, y) = x3 y − xy3x2 + y2 für alle (x, y) ≠ 0.
Die Funktion f ist stetig partiell differenzierbar mit
∂xf(0, y) = −y für alle y, ∂yf(x, 0) = x für alle x.
Damit ist ∂x∂yf(0, 0) = 1 ≠ −1 = ∂y∂xf(0, 0).
f(x, y)
∂xf(x, y)
∂yf(x, y)
Auch für die Vertauschbarkeit von Differentiation und Integration sind Differenzierbarkeitsvoraussetzungen wichtig:
Beispiel 5: Falsche Ableitung bei Differentiation unter dem Integral
Für alle y ∈ ℝ sei
w(y) = .
Weiter sei f : ℝ2 → ℝ definiert durch
wobei wie üblich sgn(y) = −1 für y < 0, sgn(y) = 1 für y > 0 und sgn(0) = 0.
Die y-Schnitte von f sind stückweise linear mit Steigungen in { −1, 0, 1 }. Sie laufen im Intervall [ 0, w(y) ] von 0 nach w(y) und dann im Intervall [ w(y), 2w(y) ] von w(y) nach 0. Die dabei eingeschlossene Fläche ist 2w(y)2/2 = y.
Die Funktion f ist stetig, 0 auf den Achsen und in allen Punkten (x, 0) nach y (aufgrund des dortigen „Nullplateaus“) partiell differenzierbar mit
∂yf(x, 0) = 0 für alle x ∈ ℝ.
Weiter gilt (vgl. den Kommentar zum obigen Diagramm)
∫10 f(x, y) dx = y für alle y ∈ [ −1/4, 1/4 ].
Damit ist
= 1 ≠ 0 = ∫10 ∂yf(x, 0) dx.
Durch eine geeignete Modifikation der Definition von f lassen sich die Knicke im Graphen von f glätten, sodass eine partiell (aber im Nullpunkt nicht total) differenzierbare Funktion entsteht, die ebenfalls nicht unter dem Integral differenziert werden kann.