Ausblick:  Kurvenintegrale in Gradientenfeldern

 Im Ausblick zu Kapitel 3. 2 hatten wir für ein stetiges n-dimensionales Vektorfeld g : P  n und eine stückweise stetig differenzierbare Kurve γ : [ a, b ]  P das Kurvenintegral

γ g(x) · dx  =  ba〈 g(γ(t)), γ′(t) 〉 dt

zweiter Art eingeführt. (Wir verwenden hier und im Folgenden den Buchstaben γ für Kurven, um f für skalare Funktionen auf P frei zu haben.) Am Beispiel des Feldes g : 2  2 mit

g(x, y)  =  (y, y − x)  für alle (x, y)  ∈  2

hatten wir gesehen, dass der Wert eines Integrals entlang einer Kurve γ, die vom Startpunkt p1 = γ(a) zum Zielpunkt p2 = γ(b) führt, im Allgemeinen vom Verlauf der Kurve abhängt. Für Gradientenfelder ist dies jedoch nicht der Fall:

Satz (Wegunabhängigkeit von Kurvenintegralen in Gradientenfeldern)

Sei g : P  n ein stetiges Vektorfeld, und sei f eine Stammfunktion von g, sodass g = grad(f). Weiter sei

γ : [ a, b ]  P

eine stückweise stetig differenzierbare Kurve. Dann gilt

γ g(x) · dx  =  f(γ(t))ab  =  f (γ(b))  −  f (γ(a)).

Insbesondere ist das Kurvenintegral von g entlang γ gleich null, wenn γ geschlossenen ist.

Beweis

Nach Definition des Kurvenintegrals und wegen g = (∂1f, …, ∂nf) gilt

γ g(x) · dx  =  ba〈 g(γ(t)), γ′(t) 〉 dt

 =  ba1 ≤ j ≤ n gj(γ(t)) γj′(t) dt  = ba1 ≤ j ≤ njf (γ(t)) γj′(t) dt

 =  baddt f (γ(t)) dt  =  f(γ(t))ab,

wobei wir im vorletzten Schritt die Kettenregel und im letzten Schritt den Hauptsatz verwenden.

 Das vergleichsweise einfache Feld g : 2  2 mit g(x, y) = (y, y − x) ist also kein Gradientenfeld. Es gibt kein f mit grad(f) = g. Dies können wir auch so formulieren: Es gibt kein f : 2   mit

xf(x, y)  =  y,  ∂yf(x, y)  =  y − x.

Das scheinbar unwesentlich veränderte Feld g mit

g(x, y)  =  (y, x − y),

ist dagegen das Gradientenfeld von f mit

f(x, y)  =  xy  −  y2/2.

analysis2-AbbID498

Das Kurvenintegral von (0, 0) nach (1, 1) im Feld g ist für jede Kurve gleich 1/2.

Für dieses Feld können wir Kurvenintegrale ohne Mühe ausrechnen. Für jede stückweise stetig differenzierbare Kurve γ von (0, 0) nach (1, 1) gilt zum Beispiel

γ g(x) · dx  =  f(1, 1)  −  f(0, 0)  =  1/2.

 Eine natürliche Frage ist nun, welche Vektorfelder Gradientenfelder sind und welche nicht. Für topologisch gutartige Definitionsbereiche P existiert eine überraschend einfache Charakterisierung. Wir nennen ein P ⊆ n sternförmig, wenn es ein p  ∈  P gibt, sodass px ⊆ P für alle x  ∈  P. Beispielsweise sind alle ε-Kugeln und alle Quader im n sternförmig, und auch n ist sternförmig. Dagegen ist n − { 0 } nicht sternförmig. Es gilt nun:

Satz (Charakterisierung von Gradientenfeldern)

Sei g : P  n, P sternförmig, ein stetig differenzierbares Vektorfeld. Dann sind äquivalent:

(a)

g ist ein Gradientenfeld.

(b)

j gi  =  ∂i gj  für alle 1 ≤ i, j ≤ n. (Integrabilitätsbedingung)

Für die Dimension n = 3 ist g genau dann ein Gradientenfeld, wenn rot(g) = 0.

 Dass (b) aus (a) folgt, lässt sich leicht einsehen. Ist g = grad(f), so gilt

j gi  =  ∂ji f  =  ∂ij f  =  ∂i gj  für alle 1 ≤ i, j ≤ n

nach dem Satz von Schwarz. Die andere Implikation ist schwieriger zu beweisen. Der Zusatz folgt direkt aus der Definition der Rotation eines Feldes.

 Für obige Felder g und g gilt

1g2(x, y)  =  −1,  ∂2g1(x, y)  =  1,  ∂1g2(x, y)  =  ∂2g1(x, y)  =  1,

sodass die Integrabilitätsbedingung für g verletzt und für g erfüllt ist.

 Auf eine topologische Voraussetzung wie die Sternförmigkeit kann im Satz nicht verzichtet werden:

Beispiel

Wir definieren das Windungsfeld g : 2 − { 0 }  2 auf der punktierten Ebene 2 − { 0 } durch

g(x, y)  =  (−y, x)x2 + y2  für alle (x, y)  ∈  2 − { 0 }.

Die Integrabiitätsbedingung des Satzes ist erfüllt, da

2 g1(x, y)  =  y2 − x2 (x2 + y2)2  =  ∂1 g2(x, y)  für alle (x, y) ≠ 0.

Die punktierte Ebene ist jedoch nicht sternförmig.

Für die Kreiskurve γ : [ 0, 2π ]  2 mit γ(t) = (cos t, sin t) gilt

γ g(x, y) · d(x, y)  =  0〈 g(γ(t)), γ′(t) 〉 dt

 =  0〈 (−sin t, cos t), (−sin t, cos t) 〉 dt

 =  01 dt  =  2π.

analysis2-AbbID500

Damit ist g kein Gradientenfeld, da das geschlossene Kurvenintegral sonst null wäre. Dagegen ist f : P   mit

f(x, y)  =  arg(x, y)  ∈  ] −π, π [

eine Stammfunktion der Funktion g|P, wobei

P  =  2 − { (x, 0) | x ≤ 0 }

die geschlitze Ebene ist (vgl. die Übungen im letzten Kapitel).

Allgemein lässt sich zeigen, dass für jede geschlossene Kurve γ das Kurvenintegral über g entlang γ das 2π-fache der Anzahl der orientierten Umläufe der Kurve um den Nullpunkt ist, was die Bezeichnung als Windungsfeld erklärt. Das Feld g lässt sich auch schreiben als g :  ,

g(z)  =  izzz¯  =  iz¯  für z  ∈  *.

Mit γ(t) = eit liest sich obiges Kurvenintegral dann als

γ g(z) · dz =  0 〈 g(γ(t)), γ′(t) 〉 dt
=  0 〈  i/e− it, i ei t 〉 dt
=  0 〈  i eit, i ei t 〉 dt
=  0 ∥ i eit ∥2 dt  =  0 1 dt  =  2π.