Der Konvergenzsatz für integrierbare Funktionen
Wir kehren nun zu den Fourier-Reihen zurück und betrachten sie im Licht unserer geometrischen Vektorraumstruktur. Aus der Definition des Skalarprodukts
〈 f, g 〉 = 12π ∫2π0 f (x) g(x) dx
und der Definition der Fourier-Koeffizienten (ck)k ∈ ℤ einer Funktion f,
ck = 12π ∫2π0f (x) e−i k x dx = 12π ∫2π0ei k x f (x) dx für alle k ∈ ℤ,
lesen wir ab, dass
ck = 〈 ei k x, f 〉 für alle k ∈ ℤ. (Skalarproduktdarstellung der Koeffizienten)
Für alle k lässt sich der Fourier-Koeffizient ck = 〈 ei k x, f 〉 als der Schwingungsanteil der Funktion f für die Frequenz k ansehen, ganz so, wie sich für das kanonische Skalarprodukt im ℝ3 die reelle Zahl 〈 e3, v 〉 = v3 mit e3 = (0, 0, 1) und v = (v1, v2, v3) als der Höhenanteil des Vektors v ansehen lässt.
Die Orthogonalitätseigenschaft können wir nun einfach schreiben als
〈 ei n x, ei k x 〉 = δn, k für alle n, k ∈ ℤ.
Speziell gilt ∥ei k x∥2 = 1 für alle k. Die Vektoren ei k x, k ∈ ℤ, unseres Vektorraumes V sind also, in der Sprache der Linearen Algebra, orthonormal:
Definition (orthogonal, orthonormal)
Zwei Vektoren f, g ∈ V heißen orthogonal, falls 〈 f, g 〉 = 0. Ein A ⊆ V heißt orthogonal, falls je zwei verschiedene Elemente von A orthogonal sind. Gilt zudem ∥f∥2 = 1 für alle f ∈ A, so heißt A orthonormal.
Die Frage ist nun, ob unsere orthonormalen Vektoren ei k x, k ∈ ℤ, ausreichen, alle Vektoren aus V in einer bestimmten Weise darzustellen. Im Kontrast zu den Begriffen „Erzeugendensystem“ und „Orthonormalbasis“ der Linearen Algebra haben wir unendliche Reihen und nicht nur endliche Linearkombinationen von Vektoren im Blick. Für jedes stetige und stückweise stetig differenzierbare f ∈ V wissen wir bereits, dass
f = limn FSn(f) = ∑k ∈ ℤ ck ei k x = FS(f) (gleichmäßig).
Ein bestechendes Ergebnis ist nun, dass die Konvergenzaussage für alle Vektoren f ∈ V richtig ist, wenn wir die gleichmäßige Konvergenz zur Konvergenz im quadratischen Mittel abschwächen. Die Vektoren eikx, k ∈ ℤ, bilden also in diesem Sinne tatsächlich eine Orthonormalbasis von V. Dass dies so ist, wird sich aus dem gleichmäßigen Konvergenzsatz und der folgenden Analyse des engen Zusammenhangs zwischen den Fourier-Reihen und dem Skalarprodukt 〈 f, g 〉 ergeben.
Wir betrachten zunächst das Skalarprodukt zwischen f und den Partialsummen FSn(f) der Fourier-Reihe von f. Die Eleganz des Vektorraumkalküls ist hier besonders augenfällig. Wir notieren und berechnen keine Integrale mehr, sondern jonglieren nur noch mit den Eigenschaften des Skalarprodukts und der Orthonormalität der Vektoren ei k x.
Satz (Approximation in 2-Seminorm, Bessel-Ungleichung)
Sei f ∈ V, und seien (ck)k ∈ ℤ die Fourier-Koeffizienten von f. Dann gilt für alle n:
(a) | 〈 f, FSn(f) 〉 = 〈 FSn(f), f 〉 = 〈 FSn(f), FSn(f) 〉 = ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2, |
(b) | ∥ f − FSn(f) ∥22 = ∥ f ∥22 − ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2, |
(c) | ∑k ∈ ℤ |ck|2 ≤ ∥ f ∥22, (Bessel-Ungleichung) |
(d) | ∥ f − FSn(f)∥2 < ∥ f − ∑− n ≤ k ≤ n dk ei k x ∥2 für alle d− n, …, dn ∈ ℂ mit (d− n, …, dn) ≠ (c− n, …, cn). (Optimalität) |
Beweis
zu (a):
〈 f, FSn(f) 〉 | = 〈 f, ∑− n ≤ k ≤ n ck ei k x 〉 = ∑− n ≤ k ≤ n ck 〈 f, ei k x 〉 |
= ∑− n ≤ k ≤ n ck ck = ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2, |
wobei wir neben den elementaren Eigenschaften des Skalarprodukts nur verwenden, dass
ck = 〈 ei k x, f 〉 = 〈 f, ei k x 〉 für alle k ∈ ℤ.
Wegen 〈 f, FSn(f) 〉 ∈ ℝ gilt weiter
〈 FSn(f), f 〉 = 〈 f, FSn(f) 〉 = 〈 f, FSn(f) 〉.
Ebenso liefern die Skalarprodukteigenschaften und die Orthonormalität der Vektoren ei k x, dass
〈 FSn(f), FSn(f) 〉 | = 〈 ∑− n ≤ k ≤ n ck ei k x, ∑− n ≤ j ≤ n cj ei j x 〉 |
= ∑− n ≤ k, j ≤ n ck cj 〈 ei k x, ei j x 〉 | |
= ∑− n ≤ k ≤ n ck ck = ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2. |
zu (b):
∥ f − FSn(f) ∥22 = 〈 f − FSn(f), f − FSn(f) 〉 =
〈 f, f 〉 − 〈 f, FSn(f) 〉 − 〈 FSn(f), f 〉 + 〈 FSn(f), FSn(f 〉) =nach (a)
∥ f ∥22 − ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2.
zu (c):
Folgt aus (b), da ∥ f − FSn(f) ∥22 ≥ 0.
zu (d):
Seien d− n, …, dn ∈ ℂ. Dann gilt:
=
〈 f − ∑− n ≤ k ≤ n dk ei k x, f − ∑− n ≤ k ≤ n dk ei k x 〉 =
〈 f, f 〉 − ∑− n ≤ k ≤ n (dk 〈 f, ei k x 〉 + dk 〈 ei k x, f 〉) + ∑− n ≤ k ≤ n |dk|2 =
∥ f ∥22 + ∑− n ≤ k ≤ n (|dk|2 − dk ck − dk ck) =
∥ f ∥22 + ∑− n ≤ k ≤ n ((ck − dk) ( ck − dk) − |ck|2) =
∥ f ∥22 − ∑− n ≤ k ≤ n |ck|2 + ∑− n ≤ k ≤ n |ck − dk|2 = nach (b)
∥ f − FSn(f) ∥22 + ∑− n ≤ k ≤ n |ck − dk|2.
Dies zeigt zusammen mit der Monotonie der Wurzel die Behauptung, da der zweite Summand in der letzten Zeile positiv ist, falls mindestens ein dk von ck verschieden ist.
Die Optimalität besagt, dass jede Partialsumme FSn(f) der Fourier-Reihe von f die im Sinne des quadratischen Mittels bestmögliche Approximation an f unter allen Linearkombinationen der Funktionen e−i n x, …, ei n x darstellt. Für reellwertige f ist jede Partialsumme FSn(f) die in diesem Sinne bestmögliche trigonometrische Approximation n-ten Grades an die Funktion f.
Wir fragen nun, ob in der Bessel-Ungleichung sogar Gleichheit gilt. Hier sind folgende Sprechweisen üblich:
Definition (Parseval-Gleichung, Vollständigkeitsrelation)
Gilt in der Bessel-Ungleichung Gleichheit, also
∑k ∈ ℤ |ck|2 = ∥ f ∥22,
so sagen wir, dass die Parseval-Gleichung für f gilt oder dass f die Vollständigkeitsrelation erfüllt.
Die Bezeichnung „Vollständigkeit“ bringt hier zum Ausdruck, dass die Funktion f außer den Schwingungsanteilen ei k x keine im Sinne der 2-Seminorm nennenswerten Anteile besitzt. Sie ist äquivalent zur Konvergenz der Fourier-Reihe von f gegen f im quadratischen Mittel:
Korollar (Konvergenzkriterium)
Sei f ∈ V, und seien (ck)k ∈ ℤ die Fourier-Koeffizienten von f. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:
(a) | limn FSn(f) = f (in 2-Seminorm). |
(b) | Es gilt die Parseval-Gleichung für f. |
Beweis
Die Behauptung folgt unmittelbar aus Teil (b) des obigen Satzes und der Definition der Konvergenz im quadratischen Mittel.
Wir notieren die Parseval-Gleichung noch explizit für Fourier-Reihen in reeller Darstellung:
Satz (Vollständigkeitsrelation in reeller Darstellung)
Sei f ∈ V reellwertig, und es gelte die Parseval-Gleichung für f. Dann gilt:
1π ∫2π0f (x)2 dx = a022 + ∑k ≥ 1 (ak2 + bk2),
wobei
FS(f)(x) = a02 + ∑k ≥ 1 (ak cos(k x) + bk sin(k x))
die Fourier-Reihe von f in reeller Darstellung ist.
Beweis
Die Aussage folgt aus
|c0|2 = a024 und |ck|2 = ak2 + bk24 für alle k ≠ 0
und
12π ∫2π0f (x)2 dx = ∥ f ∥22 = ∑k ∈ ℤ |ck|2 = |c0|2 + ∑k ≥ 1 2 |ck|2.
Die Vollständigkeitsrelation liefert zusammen mit den Konvergenzsätzen der Theorie eine neue Methode zur Bestimmung von unendlichen Summen. Ein Beispiel hierzu werden wir unten kennenlernen.
Zur Rückführung des quadratischen Konvergenzsatzes auf den gleichmäßigen Konvergenzsatz fehlt nun nur noch eine Beobachtung:
Satz (Approximationssatz)
Seien f ∈ V und ε > 0. Dann existiert eine stetige und stückweise stetig differenzierbare Funktion g ∈ V mit ∥ f − g ∥2 ≤ ε.
Beweis
Wir zeigen die Aussage für reellwertige f. Der Fall f : ℝ → ℂ ergibt sich hieraus durch Aufspaltung in Real- und Imaginärteil. Ohne Einschränkung dürfen wir zudem |f| ≤ 1/2 annehmen, denn ist f ∈ V mit |f| ≤ s und ∥ f/(2s) − g ∥2 ≤ ε/(2s) für ein g, so ist ∥ f − 2s g ∥2 ≤ ε. Seien also g1, g2 Treppenfunktionen auf [ 0, 2π ] mit
− 12 ≤ g1 ≤ f|[ 0, 2π ] ≤ g2 ≤ 12, I(g2 − g1) ≤ ε24.
Für alle y mit |y| ≤ 1 ist y2 ≤ |y|, und damit gilt
∥ f − g1 ∥22 ≤ ∫2π0|f (x) − g1(x)|2 dx ≤ ∫2π0|f (x) − g1(x)| dx ≤ ∫2π0g2(x) − g1(x) dx ≤ ε24.
Durch Ersetzen der Sprünge der Treppenfunktion g1 durch hinreichend steile Geraden können wir ein stetiges und stückweise lineares g finden mit |g| ≤ 1/2 und I(|g1 − g|) ≤ ε2/4. Dann gilt
∥ f − g ∥2 ≤ ∥ f − g1 ∥2 + ∥ g1 − g ∥2 ≤ ε/2 + ε/2 = ε.
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun zeigen:
Satz (Konvergenzsatz für integrierbare Funktionen)
Sei f ∈ V. Dann konvergiert die Fourier-Reihe FS(f) = ∑k ∈ ℤ ck eikx von f im quadratischen Mittel gegen f, und es gilt
∑k ∈ ℤ |ck|2 = 〈 f, f 〉 = ∥ f ∥22.
Beweis
Sei ε > 0, und sei g ∈ V wie im Approximationssatz für ε/3, sodass also
(1) ∥ f − g ∥2 ≤ ε/3.
Nach dem gleichmäßigen Konvergenzsatz konvergiert FS(g) gleichmäßig und damit auch im quadratischen Mittel gegen g. Also existiert ein n0 mit
(2) ∥ g − FSn(g) ∥2 ≤ ε/3 für alle n ≥ n0.
Schließlich ist nach der Bessel-Ungleichung auch
(3) ∥FSn(f) − FSn(g)∥2 = ∥ FSn(f − g)∥2 ≤ ∥f − g∥2 ≤ ε/3.
Damit gilt aber für alle n ≥ n0:
∥f − FSn(f) ∥2 ≤ ∥ f − g ∥2 + ∥ g − FSn(g) ∥2 + ∥ FSn(g) − FSn(f) ∥2 ≤ ε/3 + ε/3 + ε/3 = ε.
Dies zeigt, dass limn ∥f − FSn(f)∥2 = 0. Wir wissen bereits, dass dies gleichwertig zur Gültigkeit der Vollständigkeitsrelation für f ist.
Beispiel: Noch einmal die Sägezahnfunktion
Sei f : ℝ → ℝ die schon in Beispiel 3 oben betrachtete 2π-periodische Funktion mit f (0) = 0 und
f (x) = π − x2 für alle x ∈ ] 0, 2π [.
Wir hatten gesehen, dass
FS(f)(x) = sin(x)1 + sin(2x)2 + sin(3x)3 + … für alle x ∈ ℝ.
Wegen f ∈ V gilt aber auch Konvergenz im quadratischen Mittel. Die reelle Vollständigkeitsrelation
1π ∫2π0f (x)2 dx = a022 + ∑k ≥ 1 (ak2 + bk2)
liefert, dass die Zahlen
14 π ∫2π0(π − x)2 dx = 14 π = 2 π312 π = π26
und
∑k ≥ 1 |bk|2 = ∑k ≥ 11k2
identisch sind. Damit haben wir die Eulersche Summe über die reziproken Quadrate erneut gefunden.
In ähnlicher Weise kann man zeigen, dass
∑k ≥ 11k4 = π490.
Dagegen ist keine Berechnung der Summen ∑k ≥ 1 1/k3 oder ∑k ≥ 1 1/k5 mit Hilfe von Fourier-Reihen oder anderen Methoden bekannt (vgl. 2. 4 in Band 1).