Der harmonische Oszillator

 Wir betrachten die wichtigste physikalisch motivierte lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung, nämlich die in einer Zeitvariablen t und einer Ortsfunktion x(t) dynamisch notierte Differentialgleichung

(+)  ••x(t)  =  −2rx(t)  −  ω2x(t). (harmonischer Oszillator)

Dabei sind r ≥ 0 und ω > 0 reelle Zahlen. Die Differentialgleichung beschreibt einen Massepunkt der Masse m = 1, der sich auf der x-Achse unter dem Einfluß einer Kraft mit zwei Komponenten bewegt. Eine Komponente −ω2x(t) ist umgekehrt proportional zur Auslenkung x(t), die andere −2rx(t) umgekehrt proportional zur Geschwindigkeit (Dämpfung, z. B. durch Reibung). Die reelle Zahl 2r heißt die Dämpfung und ω die ungedämpfte Kreisfrequenz des Oszillators. Dass wir die Dämpfung in der Form 2r schreiben, geschieht zur Vereinfachung von gleich folgenden Formeln.

 Die Differentialgleichung (+) ist eine lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten, sodass wir die oben entwickelte Lösungstheorie anwenden können. Wir betrachten also das zugehörige Polynom

P(z)  =  z2  +  2rz  +  ω2,  z  ∈  .

Die komplexen Nullstellen sind

λ1, 2  =  − r  ±  r2ω2.

Wir setzen

ωr  =  |r2ω2|

und unterscheiden aus physikalischen Gründen vier Fälle.

1.  Fall:  r  =  0

Die (uns schon bekannte) allgemeine Lösung ist

x(t)  =  a cos(ωt)  +  b sin(ωt),  a, b  ∈  . (ungedämpfte Schwingung)

2.  Fall:  ω  >  r  >  0

Es gilt λ1, 2 = −r ± iωr  ∈  , λ1 ≠ λ2. Aus eλ1, 2 t = exp(−rt ± iωrt) erhalten wir durch Real- und Imaginärteilbildung die allgemeine reelle Lösung

x(t)  =  a e−rt cos(ωrt)  +  b e−rt sin(ωrt),  a, b  ∈  . (gedämpfte Schwingung)

3.  Fall:  ω  <  r

In diesem Fall ist λ2 < λ1 < 0, und wir erhalten die allgemeine Lösung

x(t)  =  a e−rt eωr t  +  b e−rt e−ωr t,  a, b  ∈  . (überdämpfter Kriechfall)

4.  Fall:  ω  =  r  >  0.

In diesem Fall ist λ1 = λ2 und fλ, fλ, 1 :    mit λ = λ1 = λ2 und

xλ(t)  =  eλt,  xλ, 1(t)  =  t eλt

ein Fundamentalsystem. Wir erhalten also die allgemeine Lösung

x(t)  =  a e−rt  +  b t e−rt  =  (a + bt) e−rt,  a, b  ∈  . (aperiodischer Grenzfall)

 Die Lösung des zweiten Falls ist auch für r = 0 gültig, sodass man den ersten in den zweiten Fall (mit ω0 = ω) mit aufnehmen kann.

 Mit Hilfe der allgemeinen Lösungen lassen sich Anfangswertprobleme lösen. Ist zum Beispiel x0 = x(0) = 0 und v0 = x(0)  ∈   (Start im Nullpunkt zur Zeit 0 mit einer beliebigen Geschwindigkeit), so ergibt sich im dritten Fall

0  =  x(0)  =  a eλ1 0  +  b eλ2 0  =  a  +  b,

v0  =  x(0)  =  a λ1 eλ1 0  +  b λ2 eλ2 0  =  λ1 a  +  λ2 b.

Dieses Gleichungssystem in den Unbekannten a und b hat die Lösung

a  =  v0λ1 − λ2  =  v0r ,  b  =  − a  =  − v0r.

 An diesem einfachen Beispiel kann man die Bedingung an die Wronski-Determinante einsehen: Ist sie stets ungleich Null, so ist das sich aus einer allgemeinen Lösung für bestimmte Anfangswerte ergebende Gleichungssystem eindeutig lösbar. In unserem Fall ist

f1(t)  =  eλ1 t,  f2(t)  =  eλ2 t,

W(t)  =  f1(t) f2′(t)  −  f2(t) f1′(t)  =  2 − λ1) e1 + λ2) t  ≠  0.

 Wir stellen die Lösungen für die vier Fälle tabellarisch zusammen und visualisieren den typischen Verlauf.

Fall

Lösung x(t) für x0 = 0, v0  ∈  

r  =  0

v0/ω sin(ωt)

ω  >  r

v0r e−rt sin(ωrt)

ω  <  r

v0/(2ωr) e−rt (eωrt − e− ωrt)  =  v0r e−rt sinh(ωrt)

ω  =  r

v0 t e−rt

analysis2-AbbID580a

Im Folgenden ist ω0 = v0 = 1. Links sind gedämpfte Schwingungen für r = 1/20, r = 1/10 (gestrichelt) und r = 1/4 (gepunktet) gezeigt. Die Periode 2π/ωr der Schwingungen hängt von r ab.

analysis2-AbbID580b

Kriechfälle für r = 2, r = 4 (gestrichelt) und r = 6 (gepunktet).

analysis2-AbbID580c

Der aperiodische Grenzfall r = ω (durchgezogen) lässt sich sowohl als Limes r  1 des Kriechfalls (im Diagramm sind r = 1,1 und r = 1,05) ansehen …

analysis2-AbbID580d

 … als auch als Limes r1 einer gedämpften Schwingung (im Diagramm sind r = 0,8 und r = 0,9).