Ausblick:  Kreispendel und Zykloidenpendel

 Ein auf einem Kreis mit Mittelpunkt 0 und Radius  > 0 reibungsfrei geführter Körper erfüllt unter der senkrecht wirkenden Schwerkraft die von der Masse des Körpers unabhängige Differentialgleichung

••φ(t)  =  − g sin(φ(t)),

die innerhalb der

elementaren Funktionen nicht lösbar ist.

analysis2-AbbID590

Man kann sie für kleine Winkel φ zu

••φ(t)  =  − g φ(t)

vereinfachen und durch

φ(t)  =  a cos(ωt − t0),

ω = g/,  a, t0  ∈  

lösen (wir diskutieren diese aus der Schule bekannten Formeln in den Ergänzungen E11). Unter dieser Vereinfachung schwingt der Körper also harmonisch im Winkel φ(t) oder gleichwertig in der signierten Bogenlänge L(t) = φ(t). Die Schwingungsdauer

T  =  2π/ω  =  2π /g

ist unabhängig von der Auslenkung.

 Der Schönheitsfehler dieses Ergebnisses ist die keineswegs unerhebliche Ersetzung von sin(φ) durch φ. Die Lösung wird für große Auslenkungen nicht nur ungenau, sondern auch qualitativ falsch: Startet der Körper zum Zeitpunkt t0 = 0 bei φ(t0) = 0 mit einer hinreichend hohen Geschwindigkeit φ(t0) > 0, so schlägt er über. Die korrekte Lösung φ(t) ist in diesem Fall monoton steigend in t. Die folgenden Diagramme zeigen den Unterschied zwischen korrekten und vereinfachten Lösungen.

 Für kleine Auslenkungen kann man sich die physikalische Situation als Fadenpendel vorstellen. Für Auslenkungen größer als π/2 verhält sich ein reales Fadenpendel aber anders als ein auf einem Kreis geführtes Pendel. Der Faden ist also bei unserer Differentialgleichung als masselose starre Stange zu interpretieren. Alternativ kann man sich den Kreis auch als Schiene wie bei einer Achterbahn vorstellen und ganz auf eine physikalische Verbindung zwischen dem Mittelpunkt und der sich bewegenden Masse verzichten. Entscheidend ist die bei einer vorgegebenen Führungslinie in jedem Punkt wirkende Kraft. Diese Sicht wird sich auch bei der Untersuchung des Zykloidenpendels bewähren, da sie insbesondere das Messen in einer signierten Bogenlänge statt einem Winkel nahelegt.

analysis2-AbbID592a

Im Folgenden ist immer g = 9,8,   = 1,  φ(0) = 0.

Das erste Diagramm zeigt die Lösung des vereinfachten AWP ••φ(t) = − g φ(t),  φ(0) = 1/2, sowie gestrichelt die (mit Hilfe elliptischer Funktionen bestimmte) Lösung des AWP ••φ(t) = − g sin(φ(t)),  φ(0) = 1/2.

analysis2-AbbID592b

Die Lösungen sind im gezeigten Zeitintervall kaum zu unterschieden. Für φ(0) = 4 (zweites Diagramm) sind die Fehler in der Periode T und Auslenkung α  =  arccos(1 − φ(0)2/(2ω2)) deutlich.

analysis2-AbbID592c

Das dritte Diagramm zeigt die Lösungen der Sinus-AWP ••φ(t) = − g sin(φ(t)),  φ(0) = 2, ••φ(t) = − g sin(φ(t)),  φ(0) = 4. Die Abhängigkeit der Schwingungsdauer von der Auslenkung ist sichtbar.

analysis2-AbbID592d

Schließlich betrachten wir die Lösungen der Sinus-AWP mit φ(0) = 6,26  bzw.  φ(0) = 6,261.

Im zweiten Fall schlägt der Körper über und läuft auf einer Kreisbahn. Für die kritische Winkelgeschwindigkeit φ(0)c gilt aufgrund der Energieerhaltung φ(0)c = 2ω = 6,2609…

Die Integralformel für die Schwingungsdauer

 Sei α  ∈  ] 0, π [. Wir betrachten das Anfangswertproblem

(+)   ••φ(t)  =  − g sin(φ(t)),  φ(0)  =  α,  φ(0)  =  0.

Der Körper startet also zur Zeit 0 mit der Auslenkung α und der Geschindigkeit 0. Die Lösung φ des AWP ist eine nicht harmonische Schwingung zwischen den Winkeln − α und α. Nach unseren Untersuchungen über ortsabhängige Beschleunigungen in einer Dimension (hier der Winkel φ) können wir eine Formel für die Schwingungsdauer angeben. Mit ω2 = g/,

V(φ)  =  −  φ0− ω2 sin(u) du  =  ω2(1  −  cos(φ)),

E  =  V(α)  =  ω2(1  −  cos(α))

und der allgemeinen Formel

2  α− α  ds2(EV(s))

für die Schwingungsdauer erhalten wir

T(α)  =  22ωα0dscos(s)cos(α). (Schwingungsdauer des Pendels)

Zur Illustration leiten wir diese Formel noch einmal direkt ab. Multiplikation von (+) mit φ(t) ergibt

φ̇(t)22  =  t0••φ(u) φ(u) du  =  t0− ω2 sin(φ(u)) φ(u) du  =  ω2(cos(φ(t)) − cos(α)).

Wurzelziehen mit negativem Vorzeichen (da φ(t) < 0 für kleine positive t) liefert, dass für die gesuchte Schwingungsdauer T = T(α) gilt:

T/40φ̇(u)cos(φ(u))cos(α)  du  =  T/402 ω du  =  ωT22.

Zur Zeit T/4 befindet sich der Körper am unteren Kreispunkt, sodass φ(T/4) = 0. Dies erlaubt, die Abhängigkeit des Integrals von T zu eliminieren:

ωT22  =  0T/4  φ̇(u)ducos(φ(u))cos(α)  =  α0dscos(s)cos(α).

Damit haben wir die obige Formel reproduziert.

 Der Integrand besitzt jedoch keine elementare Stammfunktion. Setzen wir

k  =  sin(α/2),  sodass 2k2  =  1  −  cos(α),
v  =  sin(s/2)/k, sodass s  =  2arcsin(kv),

so liefert die trigonometrische Formel

2sin(s/2)2  =  1  −  cos(s)  für alle s  ∈  

die Umformung

α0dscos(s)cos(α)  =   α0ds2k1v2  =  102dv1v21k2v2  =  2π/20 dψ1k2sin(ψ)2,

wobei wir zuletzt die Substitution sin(ψ) = v durchgeführt haben. Damit ist wie beim Umfang der Ellipse und der Länge einer Lemniskate ein elliptisches Integral aufgetaucht. Diese Integrale werden wir im Exkurs genauer untersuchen. Mit Hilfe der sich aus den elliptischen Integralen ergebenden elliptischen Funktionen werden wir dort auch das Kreispendel allgemein lösen.

 Das folgende Diagramm zeigt die Schwingungsdauer T in Abhängigkeit von der maximalen Auslenkung α  ∈  ] 0, π [ für die Länge  = 1 und g = 9,9 und einige auf vier Stellen gerundete numerische Werte. Dabei ist

T*  =  ω  =  2,0070 …

die Schwingungsdauer des vereinfachten Pendels, bei dem sin(φ) durch φ ersetzt wird.

analysis2-AbbID594

α

π/4

π/2

3π/4

7π/8

15π/16

T(α)

2,0873

2,3690

3,0667

3,8846

4,7474

Das Zykloidenpendel

 Eine natürliche Frage ist, wie ein Pendel zu konstruieren sei, dessen Schwingungsdauer unabhängig von der Auslenkung ist. Huygens fand − noch vor der Erfindung der Differentiation und Integration durch Leibniz und Newton −, dass eine Zykloide geeignet ist (vgl. auch 3. 2). Wir betrachten hierzu die folgende „Zykloidenschüssel“ unterhalb der x-Achse:

analysis2-AbbID598

Ein Kreis mit Radius r rollt unterhalb der x-Achse nach links und rechts einen halben Umfang ab. Die so entstehende Bewegung des Punktes (0, −2r) ist eine Überlagerung einer Kreisbewegung und einer Seitwärtsbewegung. Wir parametrisieren sie durch f : [ −π, π ]  2 mit

f (φ)  =  r ei(φ + 3/2 π)  +  r (φ, −1)  =  r (sin(φ) + φ,  −cos(φ) − 1)  für φ  ∈  [ −π, π ].

Der Winkel φ ist der Abrollwinkel des Kreises.

 Gegeben sei nun ein Körper der Masse m, der auf der Zykloide geführt wird und sich in Folge der Schwerkraft bewegt. Anschaulich können wir uns eine kleine Kugel vorstellen, die in der Schüssel reibungsfrei hin und her rollt. Wir zeigen, dass die Schwingungsdauer dieser Bewegung unabhängig von der Auslenkung − dem höchsten von der Kugel erreichten Punkt − ist. Wie für das Kreispendel ist die in einem Punkt f (φ) der vorgegebenen Bahn auf den Körper wirkende Kraft die Projektion der Schwerkraft auf die dortige Tangente. Diese Tangente ergibt sich aus der Ableitung der regulären Kurve f.

analysis2-AbbID600

Für den Tangentialvektor der Zykloide gilt

f ′(φ)  =  r (cos(φ) + 1, sin(φ))  für alle φ  ∈  [ − π, π ].

Damit ist die Projektion des Kraftvektors F = (0, − mg) auf f ′(φ) gleich

G(φ)  =  〈 f ′(φ), F 〉f ′(φ)∥ f ′(φ) ∥2  =  −  r m g sin(φ)∥ f ′(φ) ∥f ′(φ)∥ f ′(φ) ∥ .

Wegen

∥ f ′(φ) ∥2  =  2 r2 (1 + cos(φ))  =  4 r2 cos(φ/2)2

und cos(π/2) ≥ 0 für φ  ∈  [ −π, π ] ist also

G(φ)  =  −  m g sin(φ)2 cos(φ/2)f ′(φ)∥ f ′(φ) ∥   =  −  m g sin(φ/2)  f ′(φ)∥ f ′(φ) ∥.

Bislang war alles Geometrie. Nun betrachten wir den Abrollwinkel φ in Abhängigkeit von einer Zeitvariablen t. Nach dem zweiten Newtonschen Gesetz gilt

(+)  m ••L(t)  =  − m g sin(φ(t)/2)

für die signierte Länge L(t) des durch (0, −2r) und f (φ(t)) bestimmten Zykloidenbogens (für φ(t) < 0 ist L(t) negativ). Analog zur Längenberechnung in 3. 2 ergibt sich L(t) = 4 r sin(φ(t)/2)  ∈  [ −4r, 4r ], sodass

(++)  ••L(t)  =  −  g4r  L(t).

Folglich gilt

L(t)  =  a cos(ωt  −  t0),  ω  =  g/(4r),  t0  ∈  ,  a ≥ 0.

Zusammenfassend haben wir gezeigt:

Die Bewegung eines Massepunktes in der Zykloide f unter der Schwerkraft ist eine harmonische Schwingung in der signierten Bogenlänge. Die Schwingungsdauer ist unabhängig von der Auslenkung und gegeben durch

T  =  ω  =  2π  4rg .

 Die Unabhängigkeit von der Auslenkung wird noch beeindruckender, wenn wir das Ergebnis wie folgt interpretieren: Gleiten zwei Körper beliebiger Masse reibungsfrei mit gleicher Startzeit auf einer Zykloiden-Rutsche herab, so kommen sie unabhängig von der Starthöhe gleichzeitig am Boden an. Die Zykloide ist also eine Tautochrone. Wie bereits in 3. 2 erwähnt ist sie auch eine Brachistochrone: Zykloiden-Rutschen sind unschlagbar schnell. Diese Eigenschaft kann mit Methoden der Variationsrechnung bewiesen werden.

Das Zykloidenpendel als Fadenpendel

 Unsere Schwingung haben wir in Form der Führung auf einer Zykloide angegeben. Huygens hat entdeckt, dass man ein Zykloidenpendel auch mit Hilfe eines Fadens konstruieren kann. Hierzu zwingt man ein übliches Fadenpendel, sich links und rechts an Zykloiden anzuschmiegen. Durch die so entstehende Verkürzung des Abstands zum Aufhängepunkt ergibt die gewünschte Bahn der Bewegung.

analysis2-AbbID602

Zykloidenpendel von Christiaan Huygens. Der Pendelfaden hat die Länge 4r und schmiegt sich an zwei Zykloiden g und h an, die Translationen von f sind.

Befindet sich das Pendel bei f (φ), so verlässt der Faden die obere Zykloide bei

g(φ + π) für φ ≤ 0  bzw.  h(φ − π) für φ ≥ 0.