Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Definition (getrennte Variablen)
Eine Differentialgleichung hat getrennte Variablen, wenn sie von der Form
y′ = φ(x) ψ(y)
ist, mit Funktionen φ : I → ℝ, ψ : J → ℝ auf reellen Intervallen I,J, ψ(y) ≠ 0 für alle y ∈ J.
Die Bedingung „ψ(y) ≠ 0“ ist für die reine Lösbarkeit einer Differentialgleichung mit getrennten Variablen keine Einschränkung, denn ist ψ(y0) = 0 für ein y0, so ist f = y0 eine Lösung von „y′ = φ(x) ψ(y)“. Die Nullstellenfreiheit von ψ führt dazu, dass wir sorglos durch ψ dividieren können − was wir nutzen werden.
Ist ψ die Identität, so liegt eine homogene lineare Differentialgleichung vor, die wir bereits lösen können. Bemerkenswerterweise lässt sich ein allgemeines Lösungsverfahren aber auch für eine beliebige Multiplikationsfunktion ψ angeben. Wir motivieren dieses Verfahren durch einen heuristischen Ansatz.
Formales Lösungsverfahren für getrennte Variablen
(1) | Mit „y′ = dy/dx“ lässt sich das AWP y′ = φ(x) ψ(y), y(x0) = y0 in der folgenden Form schreiben: 1ψ(y) dy = φ(x) dx, y(x0) = y0. |
(2) | Integrieren liefert: ∫1ψ(y) dy = ∫ φ(x) dx (modulo einer Konstanten), oder, mit Berücksichtigung der Anfangswertbedingung, Ψ(y) = ∫yy01ψ(s) ds = ∫xx0 φ(t) dt = Φ(x) |
(3) | Wir bestimmen die bestimmten Integrale in (2). |
(4) | Wir lösen die durch (3) entstehende Gleichung nach y auf. Wir erhalten „y = Ψ−1(Φ(x)) = f (x)“. Die Funktion f löst auf einem geeigneten x0 enthaltenden Intervall das AWP. |
Das genaue Ergebnis lautet:
Satz (Lösungen von Differentialgleichungen mit getrennten Variablen)
Seien φ : I → ℝ, ψ : J → ℝ stetig, ψ(y) ≠ 0 für alle y, und sei (x0, y0) ∈ I × J. Weiter seien Φ : I → ℝ und Ψ : J → ℝ definiert durch
Φ(x) = ∫xx0φ(t) dt für alle x ∈ I, Ψ(y) = ∫yy01ψ(s) ds für alle y ∈ J.
Es gelte Φ[ I ] ⊆ Ψ[ J ]. Dann hat das AWP
y′ = φ(x) ψ(y), y(x0) = y0
genau eine Lösung f : I → J, und es gilt
f = Ψ−1 ∘ Φ.
Beweis
Wegen ψ(y) ≠ 0 für alle y gilt ψ > 0 oder ψ < 0. Folglich ist Ψ streng monoton steigend oder streng monoton fallend, und damit existiert Ψ−1. Wegen Ψ′ = 1/ψ ist Ψ stetig differenzierbar und damit ist, nach der Ableitungsregel für die Umkehrfunktion, Ψ−1 stetig differenzierbar mit
Ψ−1′ = 1Ψ′ ∘ Ψ− 1.
Wegen Φ[ I ] ⊆ Ψ [ J ] können wir also definieren:
f = Ψ−1 ∘ Φ.
Dann ist f eine Lösung des AWP, da f (x0) = Ψ−1(0) = y0 und
f ′ = Φ′Ψ′ ∘ Ψ−1 ∘ Φ = φ(1/ψ) ∘ f = φ · (ψ ∘ f).
Zum Beweis der Eindeutigkeit sei g : I → J eine Lösung des AWP.
Dann gilt g′ = φ (ψ ∘ g), sodass
∫xx0g′(t)ψ(g(t)) dt = ∫xx0φ(t) dt.
Mit der Substitution „s = g(t)“ wird dies zu
∫g(x)g(x0)1ψ(s) ds = ∫xx0φ(t) dt.
Wegen g(x0) = y0 gilt also Ψ(g(x)) = Φ(x) für alle x ∈ I nach Definition von Ψ und Φ. Also gilt Ψ ∘ g = Φ und damit
g = Ψ−1 ∘ Φ = f.
Die Bedingung „Φ [ I ] ⊆ Ψ [ J ]“ kann durch Verkleinern von I immer erreicht werden. Man erhält dann eine eindeutige Lösung f auf einem x0 enthaltenden Teilintervall von I.
Der Beweis ist durch seine Kombination elementarer Methoden der Differentialrechnung attraktiv, aber der Leser wird das obige formale Verfahren schätzen, wenn Differentialgleichungen mit getrennten Variablen per Hand zu lösen sind. Wir betrachten hierzu zwei Beispiele.
Beispiel 1
Das homogene lineare AWP
y′ = φ(x) y, x ∈ I, y > 0, y(x0) = y0
können wir auch als AWP mit getrennten Variablen ansehen:
(1) | 1y dy = φ(x) dx. |
(2) | ∫yy01s ds = ∫xx0 φ(t) dt. |
(3) | log(y) − log(y0) = Φ(x), mit Φ(x) = ∫xx0φ(t) dt für alle x ∈ I, |
(4) | y = elog(y0) + Φ(x) = y0 eΦ(x). |
Damit erhalten wir die von einem homogenen linearen AWP bekannte Lösung. Das AWP mit „y < 0“ wird analog behandelt.
Beispiel 2
Wir betrachten das AWP
y′ = xy, x ∈ ℝ, y > 0, y(x0) = y0.
Das Lösungsverfahren verläuft wie folgt:
(1) | y dy = x dx |
(2) | ∫yy0 s ds = ∫xx0 t dt |
(3) | Ψ(y) = y2 − y022 = x2 − x022 = Φ(x) |
(4) | y = (wegen y > 0 können wir „−“ ausschließen) |
Wir erhalten eine eindeutige Lösung f mit f (x) = auf
ℝ, | falls y0 > |x0|, |
] a, ∞ [ | falls y0 ≤ |x0|, x0 > 0, |
] −∞, −a [ | falls y0 ≤ |x0|, x0 < 0, |
wobei im zweiten und dritten Fall a = ≤ |x0|.
Die Bedingung „Φ(I) ⊆ Ψ(J)“ und die dadurch manchmal notwendige Verkleinerung von I erklärt diese Unterscheidung. Denn es gilt
Ψ[ ]0, ∞ [ ] = ] − y20/2, ∞ [,
Φ[ ℝ ] = ] − x20/2, ∞ [,
Φ[ ]b, ∞[ ] = Φ[ ]−∞, −b[ ] = ] (b2 − x20)/2, ∞ [ für alle b ≥ 0,
woraus sich die Fallunterscheidung ergibt.
Das AWP des zweiten Beispiels illustriert, dass bei gleicher Differentialgleichung ein Anfangswertproblem manchmal schwieriger zu lösen sein kann als ein anderes. Weiter kann der maximale Definitionsbereich einer Lösung von den Anfangswerten abhängen. Das folgende Diagramm fasst die Situation noch einmal zusammen.
Visualisierung der Differentialgleichung
y′ = x/y, x ∈ ℝ, y > 0
Das AWP mit „y(0) = 1“ wird gelöst durch f mit
f (x) = für alle x ∈ ℝ.
Für „y(2) = 1“ erhalten wir die Lösung g mit g(x) = , x ≥ .