Die Differentialgleichung y″ = φ(y)
Eine Differentialgleichung zweiter Ordnung
y″ = φ(x, y, y′)
ist besonders einfach, wenn die rechte Seite nur von einer der drei Variablen abhängt. Zwei der drei möglichen Fälle sind leicht zu behandeln: Ist y″ = φ(x) (erster Fall), so erhalten wir Lösungen f mit f ″(x) = φ(x) durch zweimaliges Integrieren von φ(x). Ist y″ = φ(y′) (zweiter Fall), so gilt z′ = φ(z) für z = y′. Ist also f eine Lösung der Differentialgleichung z′ = φ(z) erster Ordnung und F eine Stammfunktion von f, so ist F eine Lösung von y″ = φ(y′).
Interessanter ist y″ = φ(y) (dritter Fall) oder gleichwertig
(+) y″ − φ(y) = 0.
Wir nehmen an, dass φ eine stetige Funktion der Form φ : J → ℝ mit einem Intervall J ist. Gesucht sind auf einem möglichst großen Intervall I definierte Funktionen f : I → J mit f ″(x) = φ(f (x)) für alle x ∈ I.
Um Lösungen zu finden, multiplizieren wir die Gleichung mit y′. Dies liefert
y″(x) y′(x) − φ(y(x)) y′(x) = 0.
Die Summanden liegen nun in „nachdifferenzierter Form“ vor, sodass
ddx (y′(x)22 + Φ(y(x))) = 0,
wobei Φ eine Stammfunktion von −φ ist. Wir können also unsere Differentialgleichung in der Form
y′22 + Φ(y) = c
schreiben, mit einer Konstanten c, die den Charakter eines freien Parameters besitzt. Umformen ergibt
(++) y′ = ± .
Damit haben wir das Problem zweiter Ordnung auf eine Differentialgleichung erster Ordnung zurückgeführt. Jede Lösung von (++), für irgendein Vorzeichen und irgendein c ∈ ℝ, ist eine Lösung von (+). (Dies lässt sich auch durch Ableiten der rechten Seite einsehen, wobei mit 2φ(y)y′ nachdifferenziert wird.) Zudem ist (++) eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen, deren x-Faktor konstant gleich 1 ist. Damit können wir das Lösungsverfahren für getrennte Variablen anwenden. Genauer liefert unser Satz über die Lösungen von Anfangswertproblemen mit getrennten Variablen das folgende Ergebnis:
Satz (Lösungen von y″ = φ(y))
Seien φ : J → ℝ stetig, y0 ∈ J und Φ : J → ℝ die Integralfunktion von −φ zum Startwert y0, d. h.
Φ(y) = − ∫yy0φ(u) du für alle y ∈ J.
Weiter sei c ∈ ℝ mit Φ(y) < c für alle y ∈ J und Ψ : J → ℝ definiert durch
Ψ(y) = ± ∫yy0 für alle y ∈ J,
mit einem für das Folgende fest gewählten Vorzeichen. Sei nun I ein Intervall und x0 ∈ I derart, dass x − x0 ∈ Ψ[ J ] für alle x ∈ I. Dann hat das AWP
y′ = ± , y(x0) = y0
die eindeutige Lösung f : I → ℝ mit
f (x) = Ψ−1(x − x0) für alle x ∈ I.
Die Funktion f ist weiter die eindeutige Lösung des AWP
y″ = φ(y), y(x0) = y0, y′(x0) = ± .
Die Differentialgleichung y″ = φ(y) ist in der mathematischen Physik in der dynamischen Version ••x(t) = F(x(t)) von großer Bedeutung. Wir werden darauf später noch zurückkommen.
Beispiel
Wir betrachten das AWP
y″(x) = y, y(0) = 0, y′(0) = 1.
Mit positivem Vorzeichen gilt mit den obigen Bezeichnungen:
x0 = 0, y0 = 0, c = y′(x0)2/2 = 1/2,
Φ(y) = − y2/2 < c für alle y ∈ J = ℝ,
Ψ(y) = ∫y0 = ∫y0 = arsinh(y) für alle y ∈ J.
Also ist f : ℝ → ℝ mit
f (x) = Ψ−1(x − x0) = sinh(x) = ex − e−x2 für alle x ∈ ℝ
die eindeutige Lösung des AWP. Damit haben wir die in den einführenden Beispielen angegebene Lösung analytisch gefunden.
Differentialgleichungen y″ = φ(y) lassen sich nur in Ausnahmefällen einfach lösen. Oft ist die Bestimmung einer Stammfunktion Φ(y) von φ(y) noch leicht möglich, die Berechnung des Integrals Ψ(y) dagegen schwierig. Das folgende Beispiel zeigt, dass die Reduktion auf ein Problem erster Ordnung dennoch gewinnbringend ist.
Beispiel
Wir betrachten das AWP
y″ = y2, y(0) = 0, y′(0) = 1.
Mit x0 = 0, y0 = 0, c = y′(x0)2/2 = 1/2 und positivem Vorzeichen gilt
Φ(y) = − ∫y0u2 du = − y3/3 < c für alle y ∈ J = ] −3, ∞ [,
Ψ(y) = ∫y0 für alle y ∈ J.
Das Integral ist innerhalb der elementaren Funktionen nicht lösbar (es ist ein elliptisches Integral, vgl. den Exkurs). Das zugeordnete äquivalente Problem erster Ordnung lautet
y′ = , y(0) = 0.
Wir können ein Richtungsfeld zeichnen und so die Lösung des AWP visualisieren. Das Diagramm zeigt zudem die numerisch bestimmte Lösung.