Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz

 Unsere bisher betrachteten Anfangswertprobleme hatten eine eindeutige Lösung. Dass ein Anfangswertproblem sogar überabzählbar viele Lösungen besitzen kann, zeigt das folgende Beispiel:

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Beispiel

Wir betrachten das AWP

y′  =  2 y,  y ≥ 0,  x  ∈  ,  y(0)  =  0.

Eine Lösung des AWR ist die Nullfunktion f = 0 auf . Für alle a  ∈   ist aber auch fa :   [ 0, ∞ [ eine Lösung des AWP, wobei

fa(x)=(xa)2falls xa,0falls x<a.

 Die Wurzelfunktion auf einem Intervall [ 0, b ] ist, wie wir wissen, stetig, aber nicht Lipschitz-stetig. In der Tat spielt der Begriff der Lipschitz-Stetigkeit in der Theorie der Differentialgleichungen eine Schlüsselrolle. Die Lipschitz-Stetigkeit von φ in der Variablen y führt zur eindeutigen Lösbarkeit eines Anfangswertproblems für φ. Genauer genügt eine lokale Version:

Definition (lokale Lipschitz-Stetigkeit in der y-Variablen)

Eine Funktion φ : P  , P ⊆ 2 offen, heißt lokal Lipschitz-stetig in der zweiten Variablen, wenn für alle p  ∈  P eine Umgebung U ⊆ P von p und ein L > 0 existiert mit

(x, y1)  −  φ(x, y2)|  ≤  L |y1 − y2|  für alle (x, y1), (x, y2)  ∈  U.

 Wir haben schon in der Analysis 1 gesehen, dass die stetige Differenzierbarkeit einer auf einem kompakten Intervall definierten Funktion die Lipschitz-Stetigkeit nach sich zieht. Dies gilt auch für die lokale Version:

Satz (Lipschitz-Stetigkeit bei stetiger Differenzierbarkeit)

Sei φ : P  , P ⊆ 2 offen, stetig. Weiter sei die partielle Ableitung ∂y φ stetig. Dann ist φ lokal Lipschitz-stetig in y.

 Damit ist die lokale Lipschitz-Stetigkeit für viele Funktionen φ erfüllt und auch relativ einfach zu überprüfen.

 Nach dieser Vorbereitung können wir nun einen großen Satz der Theorie formulieren und beweisen.

Satz (Existenz und Eindeutigkeitssatz)

Sei φ : P  , P ⊆ 2 offen, stetig und lokal Lipschitz-stetig in y. Weiter sei (x0, y0)  ∈  P. Dann besitzt das AWP

y′  =  φ(x, y),  y(x0)  =  y0

eine eindeutige maximale Lösung f : J  , d. h., f ist eine Lösung des AWP, und für jede Lösung g : I   des AWP gilt I ⊆ J und g = f|I.

Beweis

Eindeutigkeit der Lösung auf einem Intervall

Seien f, g : I   Lösungen des AWP mit f ≠ g. Wir nehmen an, dass es ein x > x0 gibt mit f (x) ≠ g(x). (Andernfalls ist f (x) ≠ g(x) für ein x < x0 und wir argumentieren analog.) Da f und g stetig sind, existiert

x*  =  max { x  >  x0 | f (t)  =  g(t)  für alle x0 ≤ t ≤ x }.

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Sei nun U ⊆ P eine Umgebung von p = (x*, f (x*)) = (x*, g(x*)), in der φ Lipschitz-stetig in y mit einer Konstanten L > 0 ist. Weiter sei b > x* derart, dass die Graphen von f|[ x*, b ] und g|[ x*, b ] Teilmengen von U sind. Dann gilt für alle x  ∈  [ x*, b ]:

|f ′(x)  −  g′(x)|  =  |φ(x, f (x))  −  φ(x, g(x))|  ≤  L |f (x)  −  g(x)|.

Sei h : [ x*, b ]   definiert durch h = (f − g)2. Dann ist

h′  =  2 (f − g) (f ′ − g′)  ≤  2L |f − g| |f − g|  =  2 L h.

Damit gilt für alle x  ∈  [ x*, b ]:

(h e−2L x)′  =  h′ e−2L x  −  2L h e−2Lx  =  e−2Lx(h′ −2L h)  ≤  0.

Also ist h e−2Lx monoton fallend in [ x*, b ]. Wegen h(x*) = 0 und e−2Lx > 0 folgt hieraus, dass h ≤ 0. Nach Definition von h ist aber h ≥ 0. Also ist h = 0 und damit f (x) = g(x) auf [ x*, b ], im Widerspruch zur Wahl von x*.

Beweis der Maximierbarkeit des Definitionsintervalls einer Lösung

Wir nehmen an, dass das AWP lösbar ist und definieren f : J   durch

J  =  ⋃ { I | es gibt eine Lösung g : I   des AWP },

f (x)  =  g(x),  wobei g : I   eine Lösung des AWP mit x  ∈  I ist.

Da alle I den Punkt x0 enthalten, ist J ein Intervall und es gilt x0  ∈  J. Nach der bereits gezeigten Eindeutigkeit ist f wohldefiniert, und nach Konstruktion ist f eine maximale Lösung des AWP.

Beweis der Existenz einer Lösung (Picard-Lindelöf-Verfahren)

Für ein nichttriviales Intervall I mit x0  ∈  I ist eine differenzierbare Funktion f : I   genau dann eine Lösung des AWP, wenn

(+)  f (x)  =  y0  +  xx0φ(t, f (t)) dt  für alle x  ∈  I.

Wir zeigen, dass für ein hinreichend kleines kompaktes Intervall I ≠ { x0 } und ein abgeschlossenes nichtleeres

A  ⊆  𝒞I  =  { f | f : I   stetig }

die Abbildung T : A  A mit

T(f) (x)  =  y0  +  xx0φ(t, f (t)) dt  für alle x  ∈  I

eine Kontraktion ist, wobei wir den Raum 𝒞I mit der Supremumsnorm versehen. Dies genügt. Denn da A abgeschlossen ist, ist A mit der induzierten Metrik vollständig. Nach dem Banachschen Fixpunktsatz existiert also ein f*  ∈  A mit

T(f*)  =  f*.

Nach (+) ist f* : I   eine Lösung des AWP.

Zur Definition von I und A seien δ > 0, L > 0 und s > max(δL, 1) derart, dass

(a)

R  =  [ x0 − δ, x0 + δ ]  ×  [ y0 − δ, y0 − δ ]  ⊆  P,

(b)

(x, y1)  −  φ(x, y2)|  ≤  L |y1 − y2|  für alle (x, y1), (x, y2)  ∈  R,

(c)

(x, y)|  ≤  s  für alle (x, y)  ∈  R.

Wir setzen nun:

ε  =  δs,  I  =  [ x0 − ε, x0 + ε ],  A  =  { f  ∈  𝒞[ I ] | ∥ f − y0 ∥  ≤  δ }.

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φ(x, y) ist Lipschitz-stetig in y in einer Umgebung U von (x0, y0) mit einer Konstanten L. Weiter ist R ⊆ U und φ(x, y) beschränkt auf R durch s für eine hinreichend groß gewählte Schranke s. Dann definiert ε = δ/s eine Menge A von stetigen Funktionen, auf der T eine Kontraktion ist.

Die Menge A ist nichtleer und abgeschlossen. Weiter ist T(f)  ∈   A für alle f  ∈  A, denn

∥ T(f)  −  y0 ∥  =  ∥ xx0φ(t, f (t)) dt ∥x  ∈  I  ≤  ∥ xx0s dt ∥x  ∈  I  =  ε s  =  δ.

Damit gilt T : A  A. Schließlich ist T eine Kontraktion, denn für alle f, g  ∈  A gilt

∥ T(f)  −  T(g) ∥ =  ∥ xx0φ(t, f (t)) − φ(t, g(t)) dt ∥x  ∈  I
≤  L ∥ xx0|f (t) − g(t)| dt ∥x  ∈  I
≤  L ε ∥ f − g ∥  =  L δs ∥ f − g ∥,

mit L δ/s < 1 nach Wahl von s.

 Der Existenzbeweis von Picard-Lindelöf liefert ein Verfahren zur Lösung von Differentialgleichungen, die die Voraussetzung des Satzes erfüllen. Wir starten mit der konstanten Funktion f0 = y0 auf I und definieren rekursiv

fn + 1  =  T(fn)  für alle n.

Dann ist der eindeutig bestimmte Fixpunkt

f*  =  limn fn  (gleichmäßig)

von T die eindeutige Lösung des AWP auf dem Intervall I.

Beispiel 1

Wir betrachten das AWP

y′  =  x  +  y,  y(0)  =  0.

Raten oder Anwendung des Lösungsverfahrens für lineare Differentialgleichungen liefert die Lösung f :    mit

f (x)  =  ex  −  1  −  x  für alle x  ∈  .

Wenden wir das Verfahren von Picard-Lindelöf für φ(x, y) = x + y, I =  und f0 = 0 an, so erhalten wir:

f1(x)  =  x0 t + 0 dt  =  x22,

f2(x)  =  x0 t  +  t22  dt  =  x22  +  x36,

f3(x)  =  x0 t  +  t22  +  t36  dt  =  x22  +  x36  +  x424  usw.

Die Funktionen fn sind Partialsummen der Potenzreihenentwicklung der Lösung f.

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Die (dicker gezeichnete) Lösung des AWP

y′ = x + y,  y(0) = 0

und einige Funktionen der zugehörigen Picard-Lindelöf-Iteration.

Beispiel 2

Das AWP

y′  =  2 y,  y  ≥  0,  y(0)  =  0

ist nicht lokal Lipschitz-stetig in y. Wenden wir das Picard-Lindelöf-Verfahren für φ(x, y) = y, I = , f0 = 0 dennoch an, so erhalten wir

f1(x)  =  0  +  x0 0 dt  =  0

und allgemeiner fn(x) = 0 für alle n. Es wird also die triviale Lösung gefunden, die Lösungen fa mit

fa(x)  =  0  für x  ≤  a,  fa(x)  =  (x − a)2  für x  ≥  a

bleiben unentdeckt.

Beispiel 3

Gegeben sei nun das AWP

y′  =  sin(x y),  y(0)  =  1.

Das Picard-Lindelöf-Verfahren für φ(x, y) = sin(xy), I =  und f0 = 1 liefert

f1(x)  =  1  +  x0 sin(t) dt  =  2  −  cos(x),

f2(x)  =  1  +  x0 sin(2t − t cos(t))  dt.

Das letzte Integral ist nicht mehr elementar lösbar, f2 und die weiteren Iterationen müssen numerisch bestimmt werden.

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Die numerisch bestimmte Lösung f des AWP

y′ = sin(x y),  y(0) = 1,

sowie f0, f1 und (numerisch bestimmt) f2 der Picard-Lindelöf-Iteration