Systeme von Differentialgleichungen

 In der Mathematik betrachtet man oft nicht nur eine Gleichung, sondern ein System von Gleichungen, der Leser denke an die linearen Gleichungssysteme der Linearen Algebra. Dies gilt auch für Differentialgleichungen.

Definition (System von Differentialgleichungen)

Für P ⊆  × n und ein stetiges φ : P  n nennt man den Ausdruck

y′  =  φ(x, y)

oder ausführlicher

y1′  =  φ1(x, y1, …, yn)

y2′  =  φ2(x, y1, …, yn)

yn′  =  φn(x, y1, …, yn)

ein n-dimensionales System von Differentialgleichungen erster Ordnung.

Eine Lösung der Differentialgleichung y′ = φ(x, y) ist eine auf einem reellen nichttrivialen Intervall I definierte Funktion f : I  n mit

f ′(x)  =  φ(x, f (x))  für alle x  ∈  I,  d. h., für alle x  ∈  I gilt

f1′(x)  =  φ1(x, f1(x), …, fn(x))

fn′(x)  =  φn(x, f1(x), …, fn(x)).

Ein Anfangswertproblem für das System hat die Form

y′  =  φ(x, y),  y(x0)  =  y0  mit (x0, y0)  ∈  P,

und eine Lösung des AWP ist eine Lösung f von y′ = φ(x, y) mit f (x0) = y0.

 Eine Lösung f : I  n eines n-dimensionalen Systems

y′  =  φ(x, y)

besteht also aus n Komponentenfunktionen

f1, …, fn : I  .

Die Variablen sind gekoppelt, f1′(x) hängt in der Regel nicht nur von x und f1(x), sondern auch von f2(x), …, fn(x) ab usw. Die Variable x ist nach wie vor eindimensional.

Beispiel

Das zweidimensionale AWP

y′  =  (y2, −y1),  x, y1, y2  ∈  ,  x0  =  0,  y0  =  (0, 1).

wird durch f :   2 mit f (x) = (sin(x), cos(x)) gelöst, da

f (0)  =  (sin(0), cos(0))  =  (0, 1),  f ′(x)  =  (cos(x), − sin(x))  =  (f2(x), − f1(x)).

 Mehrdimensionale Systeme sind nützlich, um eindimensionale Differentialgleichungen höherer Ordnung zu behandeln. Der Paradefall ist:

Übersetzung von 1-2 nach 2-1

Ein eindimensionales AWP zweiter Ordnung hat die Form

y″  =  φ(x, y, y′),  y(x0)  =  a,  y′(x0)  =  b,

wobei φ : P  , P ⊆ 3. Diesem AWP können wir ein zweidimensionales AWP* erster Ordnung zuweisen:

y1′  =  y2,

y2′  =  φ(x, y1, y2),

(y1(x0), y2(x0))  =  (a, b).

Dies ist das Anfangswertproblem „y′ = ψ(x, y) = ψ(x, y1, y2), y(x0) = (a, b)“, wobei ψ :  × P   mit

ψ(x, y1, y2)  =  (y2, φ(x, y1, y2))  für alle (x, y1, y2)  ∈   × P.

Die beiden Anfangswertprobleme sind äquivalent. Die zweite Ableitung des AWP wird in AWP* durch y2′ = y1″ eingefangen. Die Lösungen lassen sich ineinander übersetzen:

Übersetzung von AWP nach AWP*

Löst f : I   das AWP, so ist g : I  2 mit g(x) = (f (x), f ′(x)) eine Lösung des AWP*, denn für alle x  ∈  I gilt

g′(x)  =  (f ′(x), f ″(x))  =  (g2(x), φ(x, f (x), f ′(x)))  =  ψ(x, g1(x), g2(x)),

g(x0)  =  (f (x0), f ′(x0))  =  (a, b).

Übersetzung von AWP* nach AWP

Löst g : I  2 das AWP*, so ist f = g1 : I   eine Lösung des AWP, denn für alle x  ∈  I gilt

g1″(x)  =  g2′(x)  =  φ(x, g1(x), g2(x))  =  φ(x, g1(x), g1′(x)),

g1(x0)  =  a,  g1′(x0)  =  g2(x0)  =  b.

Beispiel

Das AWP

y″  =  − y − 2y′,  y(0)  =  0,  y′(0)  =  1

hat die Lösung f :    mit f (x) = x e−x. Es entspricht dem AWP*

y1′  =  y2,  y2′  =  − y1 − 2y2,  y1(0)  =  0,  y2(0)  =  1

mit der Lösung g :   2 mit

g(x)  =  (f (x), f ′(x))  =  (x e−x, e−x(1 − x)).

 Dieser Übersetzungsprozess lässt sich allgemeiner für Differentialgleichungen n-ter Ordnung durchführen:

Ein AWP n-ter Ordnung kann auf ein äquivalentes

n-dimensionales AWP* erster Ordnung zurückgeführt werden.

Dadurch kommen wir in der Lösungstheorie weit voran: Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz samt Beweis bleibt auch für n-dimensionale Systeme gültig. Wir ersetzen dabei im Begriff der lokalen Lipschitz-Stetigkeit den Betrag auf  durch die euklidische Norm auf dem n:

∥ φ(x, y1)  −  φ(x, y2) ∥  ≤  L ∥ y1 − y2 ∥  für alle (x, y1), (x, y2)  ∈  U ⊆ P ⊆  × n.

Dann gilt:

Satz (Existenz- und Eindeutigkeitssatz für Systeme)

Sei φ : P  n, P ⊆  × n offen, stetig und lokal Lipschitz-stetig in y.

Weiter sei (x0, y0)  ∈  P. Dann besitzt das n-dimensionale AWP

y′  =  φ(x, y),  y(x0)  =  y0

eine eindeutige maximale Lösung f : J  n.

 Die Übersetzung von AWP nach AWP* liefert dann auch noch einen Existenz- und Eindeutigkeitssatz für eindimensionale Anfangswertprobleme n-ter Ordnung. Die genauen Ergebnisse lauten:

Satz (Existenz- und Eindeutigkeitssatz für höhere Ordnungen)

Sei φ : P  , P ⊆  × n offen, stetig und lokal Lipschitz-stetig in y  ∈  n. Weiter sei (x0, y0, …, yn − 1)  ∈  P. Dann besitzt das AWP n-ter Ordnung

y(n)  =  φ(x, y, y′, …, y(n − 1)), 

y(x0)  =  y0,  y′(x0)  =  y1,  …,  y(n − 1)(x0)  =  yn − 1

eine eindeutige maximale Lösung f : J  n.

Dynamische Systeme

 Mehrdimensionale Systeme von Differentialgleichungen lassen sich dynamisch sehr anschaulich interpretieren. Zur Illustration nehmen wir n = 3 und P =  × 3 als Definitionsbereich unserer φ-Funktion an. Wir ersetzen nun die Variable x durch eine Zeitvariable t und die Variable y durch die Ortsvariablen x, y, z. Aus φ(x, y1, y2, y3) wird also φ(t, x, y, z). Die Funktion φ :  × 3  3 lesen wir als zeitabhängiges dreidimensionales Vektorfeld:

An jedem Punkt (x, y, z) des Raumes sitzt ein Vektor

φ(t, x, y, z)  ∈  3, der sich in der Zeit t verändern kann.

Diesen Vektor können wir uns als eine lokale Strömung oder als gerichtete Windgeschwindigkeit vorstellen, die ja ein von der Zeit abhängiger Vektor ist. Ein mit der Newtonschen Punktnotation für die zeitliche Ableitung notiertes AWP

(x(t), y(t), z(t))  =  φ(t, x, y, z),  (x(t0), y(t0), z(t0))  =  (x0, y0, z0)

fragt dann nach der zeitabhängigen Kurve f :   3, f (t) = (x(t), y(t), z(t)), eines Punktes, der sich zur Zeit t0 am Ort (x0, y0, z0) befindet und sich gemäß φ bewegt. Die Funktion f ist die zeitlich parametrisierte Kurve eines Staubkorns, das sich zur Zeit t0 am Ort (x0, y0, z0) befindet und vom Wind φ mitgenommen wird. Allgemeiner lassen sich die Überlegungen für jede Dimension n durchführen. Hat man als Variable der Lösungsfunktion eine zeitliche Dimension vor Augen, so spricht man auch von dynamischen Systemen. Letztendlich haben wir nur die Namen der Variablen verändert, aber die Interpretation von x als Zeit t bringt, wie wir bei den Kurven im n bereits gesehen haben, eigene Anschauungen mit sich.

 Es ist instruktiv, die dynamische Interpretation auch für die Dimension n = 1 zu betrachten. Eine Differentialgleichung erster Ordnung hat hier die Form

x(t)  =  φ(t, x). (dynamisch notierte Differentialgleichung erster Ordnung)

Eine Lösung, die der Einfachheit halber oft selbst mit x bezeichnet wird, beschreibt einen Punkt, der sich in der Koordinate x in der Zeit t bewegt: x(t) ist der Ort des Punktes zur Zeit t. Zu jedem Zeitpunkt ist die Geschwindigkeit x(t) des Punktes gleich φ(x, t). Natürlich können wir dieser Bewegung einen Funktionsgraphen in den Koordinaten t (waagrecht) und x (senkrecht) zuordnen, der zu jedem Zeitpunkt t den aktuellen x-Wert x(t) des Punktes angibt. Dieser Graph schmiegt sich in das Richtungsfeld der Differentialgleichung ein. Die Vorstellung einer zeitlichen Bewegung in einer Koordinate bleibt aber dominant. Die Koordinate muss dabei keine Achsenkoordinate sein, jede eindimensionale Größe ist möglich. Häufig wird zum Beispiel ein von der Zeit abhängiger Winkel α(t) oder eine Bogenlänge L(t) betrachtet. Eine dynamisch notierte Differentialgleichung zweiter Ordnung in einem zeitabhängigen Winkel α(t) hat dann zum Beispiel die Form ••α(t) = φ(t, α(t), α(t)). Beispiele für eindimensionale dynamische Differentialgleichungen werden wir mit dem harmonischen Oszillator und dem Kreis- und Zykloidenpendel kennenlernen.