Ausblick: Oberflächen von Funktionsgraphen
Durch geometrische Überlegungen konnten wir eine Formel für die Oberfläche von Rotationskörpern gewinnen. Nicht alle elementargeometrischen Oberflächen entstehen jedoch durch Rotation. Sattelflächen und Ellipsoide mit paarweise verschiedenen Halbachsen sind Beispiele hierfür. Wir wollen deswegen nun noch einen weiteren Oberflächentyp betrachten, der zwar immer noch nicht so allgemein wie möglich ist, aber zumindest Sattelflächen, allgemeine Ellipsoide und viele andere Beispiele umfasst. Wir betrachten hierzu eine Funktion
f : P → ℝ, P ⊆ ℝ2
und fragen, welchen Inhalt der Graph
A(f) = { (x, y, f (x, y)) | (x, y) ∈ P } ⊆ ℝ3
von f besitzt. Wir untersuchen also Höhenlandschaften im Hinblick auf ihre Fläche. Die Idee ist wieder, A(f) durch einfache Flächen zu approximieren, deren Inhalt bekannt ist. Nehmen wir an, dass f differenzierbar ist, so bieten sich hierzu Stücke der Tangentialebenen von f an. Wir überziehen hierzu P mit einem Gitter der Maschenweite δ > 0 und betrachten für jedes Quadrat Q des Gitters die auf Q zurückgeschnittetene Tangentialebene hQ : Q → ℝ von f im Punkt
(mQ, f (mQ)), wobei mQ = „der Mittelpunkt von Q“.
Dadurch wird A(f) durch räumliche Parallelogramme mit den Ecken
(p1, h(p1)), (p2, h(p2)), (p3, h(p3)), (p4, h(p4))
appoximiert, wobei p1, …, p4 die Ecken von Q sind. Die folgenden Diagramme illustrieren diesen Ansatz.
Ein Gitter der Maschenweite δ = 1/2 auf P = [ −2, 2 ]2. Eine differenzierbare Höhenlandschaft auf P kann durch über den Quadraten des Gitters angebrachten Tangentialebenen von f approximiert werden. Sie berühren A(f) über den Mittelpunkten der Quadrate.
Tangentialapproximation für f(x, y) = x2 − y2 auf P mit Maschenweiten δ = 1, 1/2, 1/4.
Tangentialapproximation für f(x, y) = arctan(xy) auf P mit Maschenweiten δ = 1, 1/2, 1/4.
Tangentialapproximation für f(x, y) = sin(xy)2 auf P mit Maschenweiten δ = 1, 1/2, 1/4, 1/8
Die Flächeninhalte der approximierenden Parallelogramme können wir vergleichsweise leicht ausrechnen. Wir betrachten hierzu eine lineare Abbildung g : ℝ2 → ℝ mit darstellender Matrix A = (a b), sodass
g(x, y) = A (x, y) = ax + by für alle x, y ∈ ℝ2.
Das von den Bildern der Einheitsvektoren (1, 0) und (0, 1) unter g aufgespannte räumliche Parallelogramm hat die Ecken 0, (1, 0, a), (0, 1, b), (1, 1, a + b) und den Flächeninhalt ∥ (1, 0, a) × (0, 1, b) ∥ = .
Damit ist der Flächeninhalt einer Tangentialebenenersetzung mit Maschenweite δ für eine differenzierbare Funktion f : P → ℝ gleich
(+) | ∑Q ∥ δ (1, 0, aQ) × δ (0, 1, bQ) ∥ = ∑Q δ2, wobei |
(aQ bQ) = Jf(mQ) = (∂xf (mQ) ∂yf (mQ)) |
und die Summe alle Quadrate Q des Gitters durchläuft. Die gleiche Formel mit δx δy statt δ2 ergibt sich, wenn wir ein Gitter mit Maschenweite δx in x-Richtung und δy in y-Richtung verwenden. Ersetzen wir nun die Summe durch ein Integral und δxδy durch dx dy, so erhalten wir
(++) | ∫P dx dy |
als geometrisch begründete Formel für den Flächeninhalt einer differenzierbaren Höhenlandschaft f : P → ℝ. Der Definitionsbereich P von f muss dabei nicht quadratisch oder rechteckig sein, in der Summation zählen wir nur Quadrate P, deren Mittelpunkt in P liegt.
Dem Leser wird vielleicht die Analogie der Formel (++) zur Formel für die Länge des Graphen einer eindimensionalen Funktion aufgefallen sein (vgl. 3. 2). In der Tat reproduziert unsere Argumentation die Längenformel, wenn wir sie für die Dimension 1 statt 2 durchführen.
Beispiel 1: Rotationsparaboloid und Sattelfläche
Seien R > 0, K = { (x, y) ∈ ℝ2 | x2 + y2 ≤ R2 }, σ ∈ { − 1, 1 }, f : P → ℝ mit
f(x, y) = x2 + σ y2 für alle (x, y) ∈ P.
R = 1
σ = −1
Dann liefert (++) den Oberflächeninhalt
∫K d(x, y) = ∫R0∫2π0 r dφ dr = π6 ( − 1).
Für R = 1 ergibt sich
π/6 ( − 1) = 5,3304…
Die Tangentialapproximation (+) liefert 5,3435… für δ = 1/64.
Aus der Gestalt von (++) ergibt sich ohne Rechnung, dass ein Rotationsparaboloid (σ = 1) und die zugehörige Sattelfläche (σ = −1) denselben Oberflächeninhalt besitzen.
Um unseren Fund in einen Satz zu verwandeln, ist eine genaue Definition des Inhalts einer „flächenartigen“ Teilmenge A des ℝ3 notwendig. Wir verzichten hier auf eine Durchführung, die nach dem Muster der Definition der Rektifizierbarkeit einer Kurve erfolgt oder besser gleich eine allgemeine Begriffsbildung anstrebt. Dies ist Aufgabe der Differentialgeometrie. Ein allgemeiner Begriff ist unter anderem deswegen wichtig, damit nicht verschiedene Inhaltsbegriffe für Oberflächen von Rotationskörpern, Höhenlandschaften usw. nebeneinander existieren und auf ihre Konsistenz überprüft werden müssen. Unter einer derartigen Definition kann man zeigen, dass die Formel (++) für alle stetig differenzierbaren Funktionen auf Gebieten P gültig ist, wobei ein Gebiet als eine offene nichtleere und zusammenhängende Menge definiert wird. Ist allgemeiner P derart, dass das Innere int(P) von P ein Gebiet und der Rand bd(P) von P eine Menge mit Jordan-Maß 0 ist, so gilt die Formel auch für Funktionen auf P, die auf int(P) stetig differenzierbar sind. Der Rand trägt dann nichts zum Oberflächeninhalt bei. Ein wichtiges Beispiel für diesen Fall ist:
Beispiel 2: Allgemeines Ellipsoid
Seien a, b, c > 0 und f : P → ℝ definiert durch
P = { (x, y) ∈ ℝ3 | x2/a2 + y2/b2 ≤ 1 },
f(x, y) = c für alle (x, y) ∈ P.
Der Graph A(f) ist die obere Hälfte der Oberfläche eines Ellipsoids E mit den x-y-z-Halbachsen a, b, c > 0. Die Funktion f ist im Inneren der Ellipse P stetig differenzierbar, nicht aber auf ihrem Rand. In int(P) gilt
∂x f(x, y) = −c2xa2 f (x, y), ∂y f(x, y) = −c2yb2 f (x, y).
Damit ist der Oberflächeninhalt des ganzen Ellipsoids E gleich
2 ∫int(P) d(x, y)
= 2 ∫int(P) d(x, y).
Das Integral ist innerhalb der elementaren Funktionen nicht berechenbar. Wie beim Umfang der Ellipse können elliptische Integrale eingeführt werden, mit deren Hilfe sich das Integral ausdrücken und weiter analysieren lässt. Wir kommen im Exkurs darauf zurück. Eine numerische Berechnung des Integrals ergibt für a = 2, b = 3/2 und c = 1 den Wert 27,8864… Die Tangentialapproximation liefert 27,6887… für δ = 1/64.
Tangentialapproximation für die Ellipsoidfunktion f : P → ℝ3 mit Halbachsen
a = 2, b = 3/2, c = 1
und Maschenweiten δ = 1, 1/2, 1/4, 1/8. Die besonders im vierten Diagramm zu sehenden Spitzen entstehen durch Auswertungspunkte mQ, die nahe am Rand von P liegen. Sie lassen sich vermeiden, indem ein Quadrat Q des Gitters nur dann ausgewertet wird, wenn Q ⊆ P (und nicht nur mQ ∈ int(P)).