Die Themen des Buches

Die Analysis wartet mit einer überwältigenden Fülle an spannenden Themen auf. Sobald die Differentiation und Integration auf der Grundlage des Zahl- und Grenzwertbegriffs etabliert ist, eröffnen sich viele Verzweigungen mit unterschiedlichem Charakter. Dazu gehören:

(1)

metrische und topologische Räume mit ihrer fast ungeheuer zu nennenden Erweiterung des Grenzwert- und Stetigkeitsbegriffs,

(2)

die Untersuchung von Teilmengen von reellen Zahlen und die so spürbar werdende Magie des Kontinuums und der Grundlagen der Mathematik,

(3)

die mehrdimensionale Differentiation mit Tangentialvektoren und linearen Abbildungen als Ableitungen,

(4)

die in jeder Hinsicht schwergewichtigen Fourier-Reihen mit ihrem faszinierenden Leitmotiv „Alles ist eine Schwingung“,

(5)

Differentialgleichungen mit unzähligen naturwissenschaftlichen Anwendungen, die weit über „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ hinausgehen,

(6)

die mehrdimensionale Integration mit Volumenberechnungen, Koordinatentransformationen und den großen Integralsätzen von Gauß und Stokes,

(7)

die Differentialgeometrie mit Karten, gekrümmten Flächen und allgemeinen differenzierbaren Mannigfaltigkeiten,

(8)

die Funktionentheorie als elegante komplexe Version der reellen Analysis,

(9)

die Variationsrechnung zur Behandlung von Optimierungsproblemen,

(10)

die allgemeine Maß- und Integrationstheorie und der Aufbau der Wahrscheinlichkeitstheorie mit ihrer Hilfe,

(11)

die Funktionalanalysis mit Funktionen als Vektoren und neuen Konvergenzbegriffen,

(12)

irdische Fragen der Approximationstheorie und Numerik.

Ein zweites einführendes Analysis-Buch kann einiges systematisch und anderes exemplarisch oder im Überblick behandeln, vieles muss weiterführenden Darstellungen überlassen bleiben. Wir wollen die Themen, die für dieses Buch ausgewählt wurden, nun genauer vorstellen. Die Größe des Wissensfeldes, die sich früh erahnen lässt, gibt dabei Anlass zu abstrakten und allgemeinen Begriffsbildungen. Sie vertiefen nicht nur unser bisheriges Verständnis, sondern ermöglichen auch neue Untersuchungen und besitzen eine ordnende und vernetzende Kraft.

Erster Abschnitt : Integration

 Die Integration ist neben der Differentiation die zweite tragende Säule der Analysis, und eine gründliche Einführung in diesen faszinierenden und vielschichtigen Begriff zu geben, ist eines der Hauptanliegen des Buches. Nach einer Motivation des Integrals − Flächenmessung, Finden von Stammfunktionen, Mittelwertbildung, physikalische Bedeutungen − betrachten wir Partitionen von Intervallen, Riemann-Summen und das Riemann-Integral. Eine Untersuchung der Integrierbarkeitsbedingung führt uns zum gleichwertigen Darboux-Integral, das die aus der Schule bekannten Ober- und Untersummen in den Vordergrund rückt. Schließlich ermöglicht der Jordan-Inhalt für Teilmengen der Ebene eine Präzisierung der Interpretation des Integrals als Flächeninhalt.

 Das dritte Kapitel ist der begrifflichen Untersuchung des Integrals gewidmet. Wir zeigen, dass Treppenfunktionen, stetige Funktionen, monotone Funktionen sowie Funktionen mit beschränkter Variation integrierbar sind. In natürlicher Weise fällt dabei das engere Regelintegral mit ab. Es bildet einen instruktiven Kontrast zum Riemann-Integral und illustriert, dass Integrieren nicht nur im Hinblick auf kalkulatorische Probleme schwieriger und subtiler ist als Differenzieren. Diese Sicht wird durch Beispiele für nicht-integrierbare Funktionen noch verstärkt. Weiter behandeln wir die Vertauschbarkeit von Limesbildung und Integration und in einem Ausblick charakterisieren wir die Riemann-integrierbaren Funktionen mit Hilfe des elementar zugänglichen Begriffs einer Lebesgue-Nullmenge als „fast überall“ stetige Funktionen.

 Das Thema des vierten und fünften Kapitels ist der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Er zeigt, dass die beiden Säulen der Analysis aus dem gleichen Marmor gemacht sind und erlaubt uns die einfache Bestimmung von vielen Integralen. Wir diskutieren zwei Versionen. In der ersten werden Integrale mit Hilfe von Stammfunktionen berechnet, in der zweiten Stammfunktionen durch Integration konstruiert. Der Hauptsatz hat zahlreiche Anwendungen: wir können den Kalkül der Integration durch die partielle Integration und die Substitutionsregel erweitern, die Kreiszahl π als irrational erkennen und neue Beweise für den Satz von Taylor und das gliedweise Differenzieren geben. Als Kontrast betrachten wir die Kreisberechnung bei Archimedes.

 Im letzten Kapitel des Abschnitts führen wir uneigentliche Integrale ein, die unbeschränkte Flächenmessungen ermöglichen. Wir diskutieren das Integralvergleichskriterium, die Euler-Mascheroni-Konstante, die Zissoide des Diokles, die Gaußsche Glockenkurve und die Eulersche Gamma-Funktion.

Zweiter Abschnitt : Topologische Grundbegriffe

 Im Zentrum dieses Abschnitts stehen Begriffe für Punktmengen wie zum Beispiel „offene Menge“, „Umgebung eines Punktes“, „abgeschlossene Menge“, „Häufungspunkt einer Menge“, „Inneres, Abschluss und Rand einer Menge“, „zusammenhängende Menge“, „dichte Menge“. Wir diskutieren diese Begriffe in Übereinstimmung mit der historischen Entwicklung zunächst anhand der reellen Zahlen, also auf einer festen Bühne, mit der der Leser vertraut ist. Dabei lernen wir die Cantor-Menge als Beispiel für eine komplizierte, aber noch beherrschbare Teilmenge von  kennen. Weiter formulieren wir die ε-δ-Stetigkeit einer reellen Funktion in der neuen topologischen Sprache, was einen ansprechenden Beweis des Zwischenwertsatzes und eine Präzisierung der Intuition der Stetigkeit als „Erhalt von Nähe“ ermöglicht.

 Im dritten Kapitel besprechen wir die metrische Räumen, die aus einer Axiomatisierung des Abstandsbegriffs für Punkte hervorgehen. Abstandsfunktionen gewinnen wir insbesondere aus Normen auf Vektorräumen und Normen wiederum aus Skalarprodukten. Die Konvergenz von Folgen und die Stetigkeit von Funktionen lassen sich nun ganz allgemein in metrischen Räumen betrachten, wodurch der bisherige auf  und Funktionenfolgen beschränkte Rahmen eine enorme Erweiterung erfährt. Und auch die für  entwickelte topologische Begriffswelt lässt sich ohne Mühe in das Reich der metrischen Räume übertragen. Von besonderem Interesse ist der Begriff des Zusammenhangs, den wir in zwei verschiedenen Interpretationen diskutieren. Schließlich führen wir die allgemeineren topologischen Räume ein und stellen die Frage nach ihrer Metrisierbarkeit. Ein Ausblick behandelt die topologische Konvergenz.

 Die beiden letzten Kapitel sind dem topologischen Kompaktheitsbegriff gewidmet. Wir führen den von Anfängern oft als schwierig empfundenen Begriff zunächst für das Kontinuum ein und zeigen den Satz von Heine-Borel, demgemäß die kompakten Mengen in  genau die abgeschlossenen und beschränkten Mengen sind. Weiter zeigen wir, dass stetige Funktionen auf kompakten Mengen ihr Maximum und ihr Minimum annehmen und automatisch gleichmäßig stetig sind. Damit erscheint die Kompaktheit als topologische Essenz der besonderen Eigenschaften der reellen Intervalle [ a, b ]. Als Anwendung zeigen wir, dass je zwei Normen auf einem endlich-dimensionalen reellen oder komplexen Vektorraum äquivalent sind. Weiter beweisen wir die im ersten Abschnitt angegebene Charakterisierung der Riemann-Integrierbarkeit. Aufbauend auf diese Erfahrungen in  untersuchen wir kompakte Mengen in beliebigen metrischen Räumen. Der Satz von Heine-Borel ist hier im Allgemeinen nicht mehr gültig. Jedoch ist eine Charakterisierung der Kompaktheit mit Hilfe konvergenter Teilfolgen möglich, in Erweiterung des Satzes von Bolzano-Weierstraß. Die für die reellen Zahlen durchgeführte Analyse stetiger Funktionen auf kompakten Mengen ergänzen wir im allgemeinen Rahmen durch den Homöomorphiesatz und einen neuen Beweis der automatischen gleichmäßigen Stetigkeit mit Hilfe der Lebesgue-Zahl einer Überdeckung. Der Abschnitt schließt mit einem Blick auf die Hausdorff-Metrik und der Konstruktion fraktaler Gebilde wie dem Sierpinski-Dreieck und der Koch-Kurve.

Dritter Abschnitt : Mehrdimensionale Differentiation

 Gegenstand dieses Abschnitts sind differenzierbare Funktionen, die auf einer Teilmenge eines Raumes n definiert sind und Werte in einem Raum m annehmen. Die eindimensionale Differentiation entspricht also dem Fall m = n = 1.

 In den beiden ersten Kapiteln betrachten wir n = 1, m ≥ 1 und stetige Funktionen f : [ a, b ]  m, sogenannte Kurven. Die Ableitung einer Kurve kann über die Ableitung ihrer Komponenten erklärt und durch Tangentialvektoren veranschaulicht werden. Ein Ausblick über Peano-Kurven zeigt, dass raumfüllende Kurven existieren, die unseren Dimensionsbegriff in Frage stellen. Stetig differenzierbaren Kurven können wir dagegen eine Länge zuweisen, die wir in Analogie zur Riemann-Integrierbarkeit definieren. Wir begründen eine Formel für die Längenberechnung physikalisch und berechnen die Längen von Zykloiden, Ellipsen, Lemniskaten und anderen Kurven. Danach beweisen wir die Formel mit Hilfe des Variationsbegriffs. Weiter führen wir Kurvenintegrale für skalare und vektorwertige Funktionen ein. Eine Ergänzung behandelt die Sektorformel von Leibniz.

 Ab dem dritten Kapitel lassen wir mehrdimensionale Definitionsbereiche zu. Die uns aus dem Eindimensionalen bekannte Linearisierung steht im Zentrum. An die Stelle von Ableitungszahlen treten Jacobi-Matrizen und die zugehörigen linearen Abbildungen. Wie früher gewinnen wir Ableitungsregeln, und auch eine Version des Mittelwertsatzes gilt. Mit dem Hauptsatz über implizite Funktionen lernen wir einen der wichtigsten Sätze der Analysis kennen. Wir motivieren ihn durch das Lösen von Gleichungssystemen und gewinnen aus ihm den Satz über die Umkehrfunktion und den Offenheitssatz. In einem Ausblick geben wir einen kurzen Beweis mit Hilfe des Banachschen Fixpunktsatzes. Im vierten Kapitel verlassen wir das Thema „Linearisierung“ kurzfristig zugunsten partieller Ableitungen, bei denen wir eine Komponente der betrachteten Funktion nach einer gewissen Variablen differenzieren und die anderen Variablen wie Konstanten behandeln. Wir sehen, dass die Jacobi-Matrix aus allen möglichen partiellen Ableitungen gebildet ist und dass die Stetigkeit der partiellen Ableitungen die Differenzierbarkeit garantiert. Weiter beweisen wir den Satz von Schwarz über mehrfache partielle Ableitungen und einen Vertauschungssatz über partielle Ableitung und Integration. Zur Klärung der Verhältnisse untersuchen wir eine Reihe von Gegenbeispielen.

 Im fünften und sechsten Kapitel stellen wir Anwendungen der Theorie vor. Wir besprechen Gradienten, Richtungsableitungen, die Divergenz, Rotation und den Laplace-Operator sowie Kurvenintegrale in Gradientenfeldern. Weitere Anwendungen liefert die mehrdimensionale Taylor-Entwicklung. Sie spielt insbesondere in der mehrdimensionalen Kurvendiskussion eine Schlüsselrolle, zu deren Hauptaufgaben wie im Eindimensionalen das Auffinden von lokalen Extrema gehört. Wir zeigen, wie sich der Gradient und die Hesse-Matrix einer Funktion zur Identifikation lokaler Extremalstellen einsetzen lassen. Zudem untersuchen wir bedingte lokale Extrema, die Multiplikatorregel von Lagrange und Tangentialräume. Der Abschnitt schließt mit einem Ausblick über analytische Beweise des Spektralsatzes der Linearen Algebra.

Vierter Abschnitt : Überblickswissen Fourier-Reihen

 Wir gehen der mathematisch, naturwissenschaftlich, technisch und historisch bedeutsamen Frage nach, ob und wie sich periodische Funktionen als unendliche Überlagerung von Elementarschwingungen darstellen lassen. Nachdem wir das Problem zur Vereinfachung nach  übersetzt haben, beweisen wir klassische Konvergenzergebnisse: den punktweisen Konvergenzsatz von Dirichlet mit Hilfe des Lemmas von Riemann, den gleichmäßigen Konvergenzsatz mit Hilfe der Besselschen Ungleichung sowie den Satz über die Konvergenz im quadratischen Mittel mit Hilfe eines Skalarprodukts für periodische Funktionen. In einem Ausblick diskutieren wir die Fourier-Transformation.

Fünfter Abschnitt : Überblickswissen Gewöhnliche Differentialgleichungen

 Anhand einfacher Gleichungen wie y″ = 0, y′ = c y oder y″ = −y motivieren wir Differentialgleichungen und Anfangswertprobleme. Nach einer Visualisierung der Problemstellung durch Richtungsfeldern untersuchen wir lineare Differentialgleichungen und solche mit getrennten Variablen. Diesen speziellen Lösungsverfahren stellen wir einen allgemeinen Existenz- und Eindeutigkeitssatz zur Seite, den wir unter Einsatz des Banachschen Fixpunktsatzes beweisen. Nun betrachten wir lineare Systeme und als wichtige physikalische Anwendung den gedämpften harmonischen Oszillator. Physikalisch motiviert ist auch die Modellierung einer ortsabhängigen Beschleunigung, die wir exemplarisch anhand des Kreispendels genauer ausführen.

Sechster Abschnitt : Überblickswissen Mehrdimensionale Integration

 Wir erweitern das Riemann-Integral auf Funktionen mit mehrdimensionalen Definitionsbereichen. Der enge Zusammenhang mit dem Jordan-Inhalt bleibt dabei bestehen. Weiter zeigt sich, dass das mehrdimensionale Integral oft als mehrfaches eindimensionales Integral dargestellt werden kann, sodass der eindimensionale Kalkül eingesetzt werden kann. Über die Berechnung des Kugelvolumens gelangen wir zum Cavalierischen Prinzip und über Kegelstümpfe zu einer anschaulich begründeten Formel für den Inhalt von Rotationsflächen, die wir auf Kugeln, Tori und Rotations-Ellipsoide anwenden. Danach führen wir ebene und räumliche Polarkoordinaten sowie Zylinderkoordinaten ein und bereiten so die allgemeine Transformationsformel vor. In einem Ausblick untersuchen wir die Oberflächeninhalte von Funktionsgraphen.

Exkurs: Von der Partialbruchzerlegung zu den elliptischen Funktionen

 Durch Partialbruchzerlegung können wir zeigen, dass jede rationale Funktion eine elementare Stammfunktion besitzt. Die Frage, wie sich dieses Ergebnis noch verbessern lässt, führt uns zu den elliptischen Integralen, denen wir im Verlauf schon mehrfach begegnet sind. Wir führen elliptische Funktionen ein, mit deren Hilfe wir das Kreispendel lösen.

analysis2-AbbID205

Das Diagramm visualisiert in vereinfachter Form die Abhängigkeiten der zehn Abschnitte der beiden Bände. Von den Zahlen führt ein natürlicher Weg zur Integration. Die Topologie kann prinzipiell sehr früh studiert werden, wobei der Abstraktionsgrad hier streckenweise recht hoch ist und zuweilen auch auf die Integration Bezug genommen wird. Der Abschnitt über Fourier-Reihen kann gleich nach der Integration gelesen werden und eignet sich auch als Grundlage eines begleitenden Proseminars; am Ende werden einige metrische Begriffe verwendet, die aber im Text auch an Ort und Stelle erklärt werden. In die Abschnitte über gewöhnliche Differentialgleichungen und die mehrdimensionale Integration kann man ebenfalls hineinlesen, sobald man die eindimensionale Differentiation und Integration beherrscht. Gleiches gilt auch für den Exkurs.