Elliptische Integrale

 Wir haben gesehen, dass jede rationale Funktion eine elementare Stammfunktion besitzt. Die Berechnung der Kreisfläche und viele andere Beispiele zeigen, dass im Integranden oft auch Wurzelausdrücke auftauchen. Folgende Verstärkung des Ergebnisses besagt, dass die elementaren Funktionen in gewissen Fällen noch ausreichen:

Satz (Integration rationaler Funktionen mit Quadratwurzeln vom Grad 2)

Sei h : [ a, b ]   mit

h(x)  =  f (x, s(x))g(x, s(x))  für alle x  ∈  [ a, b ],

mit Polynomen f, g : 2   beliebigen Grades in zwei Variablen und einer Funktion s : [ a, b ]  [ 0, ∞ [ der Form

s(x)  =  a2x2+a1x+a0  für alle x  ∈  [ a, b ].

Dann besitzt h eine elementare Stammfunktion.

 Der Beweis des Satzes besteht darin, ein Integral über h durch geeignete Substitutionen in ein Integral über eine rationale Funktion zu überführen. Anstelle einer Durchführung blicken wir nach vorne: Mit dem Ergebnis haben wir die Grenze der elementaren Funktion erreicht. Ist nämlich h wie im Satz mit einer Wurzelfunktion s : [ a, b ]  [ 0, ∞ [ der Form

s(x)  =  a4x4+a3x3+a2x2+a1x+a0  für alle x  ∈  [ a, b ],

so liegen die Stammfunktionen H von h im Allgemeinen außerhalb des Reichs der elementaren Funktionen. Ein Integral über eine Funktion dieses Typs heißt ein elliptisches Integral. Die Bezeichnung beruht darauf, dass derartige Integrale bei der Berechnung der Bogenlänge von Ellipsen auftauchen (dies motiviert auch die Beschränkung auf den Grad 4). Man muss neue Funktionen einführen, um elliptische Integrale behandeln zu können − ganz so, wie man den Logarithmus und den Arkustangens einführen muss, um rationale Funktionen integrieren zu können. Überraschend ist nun, dass sich alle elliptischen Integrale durch geeignete Transformationen mit Hilfe von drei neuen Grundintegralen bestimmen lassen. Die drei Grundintegrale lassen sich in verschiedenen äquivalenten Formen schreiben. Wir wählen eine Sinus-Formulierung, da uns Beispiele für sie schon begegnet sind:

 Im Gegensatz zu den elementaren Funktionen gibt es keine einheitlichen Notationen und Definitionen für die elliptischen Grundintegrale (und für viele andere spezielle Funktionen). Es existieren Varianten, die zwar alle letztendlich äquivalent sind, aber zu Fehlern führen, wenn man die Details nicht überprüft. Wir folgen hier den Definitionen in der DLMF (Digital Library of Mathematical Functions).

Elliptische Integrale in Legendre-Form

F(φ, k)  =  φ0dψ1k2sin2ψ, (erster Art)

E(φ, k)  =  φ01k2sin2ψ dψ, (zweiter Art)

Π(φ, α2, k)  =  φ0dψ(1α2sin2ψ)1k2sin2ψ. (dritter Art)

 Die Zahl φ heißt die Amplitude oder das Argument der elliptischen Integrale, k ihr Modul, und α2 der Parameter des dritten Typs. Wir beschränken uns hier auf reelle Integranden. Genauer betrachten wir die Integrale im Folgenden für

(φ, k)   ∈    × [ 0, 1 [, (für die erste Art)

(φ, k)   ∈    × [ 0, 1 ], (für die zweite Art)

(φ, α2, k)   ∈    × [ 0, 1 [ × [ 0, 1 [, (für die dritte Art)

wobei wir im ersten und dritten Integral zusätzlich auch k = 1 oder α = 1 zulassen, dann aber φ auf ] − π/2, π/2 [ einschränken. Für α2 = 0 geht das dritte Integral in das erste über.

 Traditionell werden die drei Typen auch als „unvollständige elliptische Integrale“ bezeichnet. Integriert man bis zur festen oberen Grenze π/2, so spricht man von vollständigen elliptischen Integralen und definiert

K(k)  =  F(π/2, k),  E(k)  =  E(π/2, k),  Π2, k)  =  Π(π/2, α2, k).

 Durch die Substitution „t = sin ψ“ erhält man die äquivalente Darstellung mit Quadratwurzeln über Polynome höchstens vierten Grades:

Elliptische Integrale in Jacobi-Form

F(φ, k)  =  sin φ0dt1t21k2t2, (erster Art)

E(φ, k)  =  sin φ01k2t21t2 dt, (zweiter Art)

Π(φ, α2, k)  =  sin φ0dt(1α2t2)1t21k2t2. (dritter Art)

zum elliptischen Legendre-Integral erster Art

analysis2-AbbID662a

Die Integranden von F(φ, k) für k  =  0, 1/10, …, 8/10, k  =  0,9; 0,95; 0,98 k  =  1. Für k = 1 ergibt sich 1/|cos(x)|, was wir nur bis π/2 integrieren können.

analysis2-AbbID662b

F(φ, k) für die obigen Modul-Werte k. Die Funktion F(φ, 0) ist die Identität, danach zeigen sich immer stärkere streng monoton steigende Wellen. F(φ, 1) strebt gegen unendlich, wenn φ gegen π/2 strebt.

analysis2-AbbID662c

Das vollständige elliptische Integral K(k) für k  ∈  [ 0, 1 [. Speziell gilt K(0)  =  π/2.

zum elliptischen Legendre-Integral zweiter Art

analysis2-AbbID664a

Die Integranden von E(φ, k) für k wie beim Integral erster Art. Für k = 1 ergibt sich |cos(φ)|.

analysis2-AbbID664b

E(φ, k) für die obigen Modul-Werte k. Erneut ist E(φ, 0) die Identität. Die Dynamik in k verläuft nun nach unten in streng monoton steigenden Wellenbewegungen. E(φ, 1) ist überall definiert.

analysis2-AbbID664c

Das vollständige elliptische Integral E(k) für k  ∈  [ 0, 1 ]. Speziell gilt E(0)  =  π/2, E(1)  =  1.

zum elliptischen Legendre-Integral dritter Art

analysis2-AbbID666a

Die Integranden von Π(φ, 2/3, k) für k wie oben. Für α2 = 0 geht das dritte Integral in das erste über. Für andere α gilt: Je näher α2 bei der 1 liegt, desto stärker ausgeprägt ist die Grundwelle.

analysis2-AbbID666b

Π(φ, 2/3, k) für die obigen k. Der Verlauf ist ähnlich wie beim ersten Integral, wobei nun k = 0 nicht mehr zur Identität führt.

analysis2-AbbID666c

Das vollständige elliptische Integral Π(k, 2/3) für k  ∈  [ 0, 1 [. Allgemein gilt

Π2, 0) = π21α2, sodass also Π(2/3, 0)  =  3 π/2.

 Die elliptischen Integrale haben zahlreiche historisch und inhaltlich bedeutsame Anwendungen. Vier davon sind uns in diesem Buch begegnet:

I.  Umfang einer Ellipse

Eine Ellipse

E  =  { (x, y)  ∈   | x2/a2  +  y2/b2  =  1 }

mit den Halbachsen a > b > 0 hat den Umfang (vgl. 3. 2)

4 a E(π/2, k)  =  4 a E(k),  wobei  k2  =  1 − b2/a2.

II.  Länge einer Lemniskate

Eine Lemniskate

L  =  { (x, y)  ∈  2 | (x2  +  y2)2  =  a2 (x2 − y2) }

zum Parameter a > 0 hat die Länge (vgl. 3. 2)

2a ϖ  =  22 a F(π/2, 1/2)  =  22 a K(1/2).

III.  Schwingungsdauer des Kreispendels

Ein (nicht linearisiertes) Kreispendel der Länge  und der Auslenkung α  ∈  ] 0, π [ hat die Schwingungsdauer (vgl. Kapitel 5)

T  =  4ω K(k),  wobei  ω2 = g/,  k = sin(α/2),  2k2 = 1 − cos(α).

IV.  Oberfläche eines triaxialen Ellipsoids

Ein Ellipsoid

E  =  { (x, y, z)  ∈  3 | x2/a2  +  y2/b2  +  z2/c2  =  1 }

mit den Halbachsen a > b > c > 0 hat den Oberflächeninhalt

2πc2  +  2πabsin φ(E(φ, k) sin2φ  +  F(φ, k) cos2φ), (Legendre-Formel)

wobei φ  =  arccos(ca),  k2  =  a2 (b2 − c2)b2 (a2 − c2).

Der Beweis der im Jahr 1811 von Adrien-Marie Legendre gefundenen Formel (oder die Umformung des in Abschnitt 6 angegebenen Doppelintegrals zu dieser Formel) ist eine nichtriviale Angelegenheit. Wir verweisen den Leser hierzu auf die Literatur, etwa auf Frank Bowman, Introduction to Elliptic Functions with Applications, Dover, New York, 1961.