Komplexe und totale Differenzierbarkeit

 Wir haben gesehen, dass eine Drehstreckung (mit Zentrum 0) als Funktion der reellen Ebene durch eine konforme Matrix beschrieben wird. Damit ist die Differenzierbarkeit von f in p äquivalent zur Existenz von a, b  ∈   mit

(++)  f (z)  =  f (p)  +  abba(z − p)  +  o(z − p)  für z  p.

Im singulären Fall ist a = b = 0 und die Matrix die Nullmatrix, im regulären Fall ist (a, b) ≠ 0 und die Matrix konform. Gilt (++), so ist f ′(p) = (a, b) = a + ib.

 Nach Definition der totalen Differenzierbarkeit ist die Matrix A(a, b) in (++) die Jacobi-Matrix Jf(p) von f an der Stelle p. Damit haben wir gezeigt:

Satz (Konformität der Jacobi-Matrix)

Sei f : P  , und sei p  ∈  P. Dann sind äquivalent:

(a)

f ist komplex differenzierbar in p.

(b)

f ist total differenzierbar in p und es gibt a, b  ∈   mit

Jp(p)  =  ((a, b); (−b, a)),

d. h. Jp(p) ist die Null-Matrix oder konform.

In diesem Fall gilt f ′(p) = Jp(p) e1 = a + i b.

 Schreiben wir f in der Re-Im-Form f = u + i v mit den reellwertigen Komponentenfunktionen u, v :   , so gilt

Jf(p)  =  ((grad(u) (p), grad(v) (p))  =  xu(p)yu(p)xv(p)yv(p)  ∈  2 × 2.

Hieraus können wir ablesen:

Satz (Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen)

Sei f : P   mit f = u + i v. Weiter sei p  ∈  P. Dann sind äquivalent:

(a)

f ist komplex differenzierbar in p.

(b)

f ist total differenzierbar in p mit grad(v) (p) = i grad(u) (p), d. h.

x u (p)  =  ∂y v (p),

y u (p)  =  − ∂x v (p).(Differentialgleichungen von Cauchy-Riemann)

In diesem Fall gilt f ′(p)  =  ∂x u (p) + i ∂x v (p)  =  ∂x u (p) − i ∂y u (p).

 Die totale Differenzierbarkeit folgt wie üblich aus der Existenz und Stetigkeit der vier partiellen Ableitungen von f an der Stelle p.

 Damit die Information nicht untergeht, notieren wir explizit:

Gradientenformulierung

Die Holomorphie von f = (Re(f), Im(f)) ist äquivalent zu

grad Im(f)  =  i grad Re(f)  und  f ist total differenzierbar.

In diesem Fall gilt f ′ = grad Re(f) = i grad Im(f).

 Wir hatten gezeigt, dass für jede Matrix A = ((a, b), (c, d)) äquivalent sind:

(1)

A (λ z + μ w)  =  λ A z  +  μ A w  für alle λ, μ, v, w  ∈  .(-Linearität)

(2)

a = d und c = − b, d. h. A ist konform oder 0.

Wir erhalten so unsere dritte Charakterisierung:

Satz (-Linearität der Jacobi-Matrix)

Sei f : P  , und sei p  ∈  P. Dann sind äquivalent:

(a)

f ist komplex differenzierbar in p.

(b)

f ist total differenzierbar in p und Jp(p) ist -linear.

 Damit haben wir den Unterschied der komplexen und der reellen totalen Differenzierbarkeit aus drei verschiedenen Blickwinkeln beschrieben:

Konformität (oder 0-Kollaps), Cauchy-Riemann-Gleichungen, -Linearität.

 Aus reell-analytischer Sicht gilt:

Drehen und Strecken

Die eindimensionale Funktionentheorie ist die Beschränkung der Theorie der totalen Differenzierbarkeit für die Dimensionen m = n = 2 auf die Klasse der lokalen Drehstreckungen zusammen mit der Nullabbildung. Die Theorie konzentriert sich (nach dem Motto „weniger ist mehr“) auf einen besonders wichtigen Spezialfall.

Hinzu kommt:

Algebraischer Komfort

Da wir die Ebene 2 als Zahlkörper  auffassen können, wird das Rechnen mit Matrizen zum Rechnen mit Zahlen. Aus A (x, y) mit einer -linearen Matrix A  ∈  2 × 2 und einem Vektor (x, y)  ∈  2 wird das algebraisch einfachere komplexe Produkt c z mit c = A e1  ∈   und z = (x, y)  ∈  .

 Wir illustrieren die Ergebnisse an zwei instruktiven Beispielen.

Beispiele

(1)

Die komplexe Konjugation f :    mit

f (z)  =  z  für alle z  ∈  

ist eine Spiegelung an der x-Achse und nirgendwo bis auf einen kleinen Fehler eine affine Drehstreckung. Für alle x, y  ∈   gilt:

f(x, y)  =  x − i y  =  (x, − y),

x x  =  1,  ∂y x  =  0,

x (− y)  =  0,  ∂y (− y)  =  −1,

Jf(x, y)  =  1001.

Die Funktion ist stetig reell differenzierbar, aber nirgendwo komplex differenzierbar. Die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen sind überall verletzt. Keine Matrix Jf(x, y) ist -linear.

Analoges gilt für Spiegelungen an anderen Achsen. Es ist bemerkenswert, dass selbst diese einfachen linearen Abbildungen nicht unter die komplexe Differenzierbarkeit fallen.

(2)

Für die Quadratfunktion sq :    gilt für alle x, y  ∈  :

sq(x, y)  =  (x + i y)2  =  x2 − y2  +  i 2 x y  =  (x2 − y2, 2x y),

x (x2 − y2)  =  2x,  ∂y (x2 − y2)  =  − 2y,

x 2 x y  =  2 y,  ∂y 2 x y  =  2 x,

Jf(x, y)  =  2 xyyx.

Die Funktion ist überall komplex differenzierbar. Es gelten die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen und jede Jacobi-Matrix ist -linear. Die Matrix Jf(0) ist die Null-Matrix und Jf(p) ist konform für alle p ≠ 0. Genauer gilt für p ≠ 0:

Jf(p)  =  2 r rotφ  mit  r = |p|, φ = arg(p).

In Landau-Notation gilt für jedes p (einschließlich p = 0):

f (z)  =  p2  +  2p (z − p)  +  o(z − p)  für  z  p.

Die Quadratfunktion ist also bei bis auf einen kleinen Fehler eine affine komplexe Gerade mit dem Drehfaktor 2p.

 Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich angeben. Der Leser kann untersuchen, wo die Funktionen f, g :    mit

f (z)  =  z z,

g(z)  =  z (1 − |z|2)  für alle z  ∈  

komplex bzw. reell differenzierbar sind und wo nicht (Übung).

Zur Voraussetzung der totalen Differenzierbarkeit

In unseren Charakterisierungen haben wir „total differenzierbar“ verwendet. Die komplexe Differenzierbarkeit impliziert die totale Differenzierbarkeit. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob nicht die Cauchy-Riemann-Gleichungen genügen, um die komplexe Differenzierbarkeit zu folgern. Dies ist jedoch nicht der Fall. Gegenbeispiele liefern die Funktionen f, g :    mit

f (z)  =  exp(z−4)für z ≠ 0,  f (0) = 0,
g(z)  =  z5|z|4 für z ≠ 0,  g(0) = 0.

Die Funktion f erfüllt die Cauchy-Riemann-Gleichungen auf ganz , ist aber im Nullpunkt unstetig und damit nicht komplex differenzierbar. Die Funktion g ist stetig auf  und erfüllt die Cauchy-Riemann-Gleichungen an der Stelle 0, ist aber nirgendwo komplex differenzierbar. Auf der positiven Seite gilt der folgende Satz von Looman-Menchoff (1923, 1936):

Sei f : P   stetig und f erfülle die Cauchy-Riemann-Gleichungen (sodass f insbesondere partiell differenzierbar ist). Dann ist f holomorph.

Die Holomorphie ist also charakterisiert durch „Stetigkeit plus Cauchy-Riemann“. Das Ergebnis gilt (wie g zeigt) nicht mehr punktweise.