Quadratwurzelfunktionen

 Ist f : P   nicht injektiv, so ist die Umkehrung von f im wahrsten Sinne des Wortes nur eingeschränkt möglich: Wir suchen eine möglichst große (und „sympathische“) Teilmenge Q von P, sodass die Einschränkung f : Q   von f auf Q injektiv und damit umkehrbar ist. Bei der reellen Qudratfunktion ist die Einschränkung auf den rechten Ast üblich: wir wählen Q = [ 0, ∞ [. Prinzipiell ist auch Q = ] −∞, 0 ] möglich. Die Wurzelfunktion würde dann im vierten Quadranten mit negativer Steigung verlaufen und ständig negative Werte ausgeben. Man würde sich im Lauf der Zeit daran gewöhnen.

 Für die komplexe Quadratfunktion ist jede offene Halbebene H durch 0 zur Injektivierung geeignet. Durch die Winkelverdopplung des Quadrierens wird diese Halbebene bijektiv aufgebogen − wie bei einem Fächer, aber zudem mit quadratischer Streckung. Das Bild sq[ H ] ist eine geschlitzte Ebene. Wenn wir einen Halbstrahl der die Halbebene definierenden Geraden einschließlich des Ursprungs zu H hinzunehmen, erhalten wir als Bild ganz . Mehr geht nicht. Bei einer abgeschlossenen Halbebenene ist die Injektivität auf der Kante der Halbebene verletzt.

 Die bevorzugte offene Halbebene zur Injektivierung von sq im Komplexen ergibt sich durch die Wahl der positiven reellen Zahlen als „Mittelachse“. Zudem mögen wir i hier wie bei der Standardbasis lieber als − i. Wir setzen also:

H  =  { (x, y)  ∈  2 | x > 0 }(offene rechte Halbebene)

H+  =  H ∪ { (0, y) | y ≥ 0 }.(erweiterte rechte Halbebene)

Die Funktion sq ist auf H+ (und damit auf H) injektiv. Wir definieren:

Definition (komplexe Quadratwurzelfunktion)

Wir definieren die komplexen Quadratwurzelfunktionen sqrt und sqrt+ durch

sqrt  =  (sqH)−1,  sqrt+  =  (sqH+)−1.

Wir schreiben auch z anstelle von sqrt+(z).

Die Funktion sqrt heißt der (offene) Hauptzweig der komplexen Wurzel.

Hier steht „sqrt“ für „square root“. Mit der geschlitzen Ebene  =  − ] −∞, 0 ] gilt:

sqrt :   H  biholomorph,  sqrt+ :   H+  bijektiv.

In der Literatur wird oft nur sqrt oder das Wurzelzeichen verwendet und die Einschränkung auf erst beim Differenzieren vorgenommen. Die folgenden Diagramme illustrieren die Bedeutung des Schlitzes in für die Wurzeln.

cana1-AbbIDcomplex_sqrt_1

Die komplexe Quadratwurzel sqrt+ :   H+. Die Funktion ist für negative reelle Zahlen definiert und dort imaginär-grün. Es wird das halbe Farbspektrum verwendet. Die Funktion sqrt hat den gleichen Verlauf, ist aber auf ] −∞, 0 ] nicht definiert.

cana1-AbbIDcomplex_sqrt_1vec

sqrt+ :   H+ als Vektorfeld. Auf ] −∞, 0 [ zeigen die Pfeile senkrecht nach oben (entsprechend Werten auf der positiven i-Achse). Es gilt zum Beispiel sqrt+(−9) = 3i.

cana1-AbbIDcomplex3d_sqrt3d_1

|sqrt+| als Höhenlandschaft, eingefärbt nach dem Argument.

Verlust der Stetigkeit für die erweiterte Version

Die auf ganz  definierte Wurzelfunktion sqrt+ ist nicht stetig. Die Farben springen auf ] −∞, 0 [ von violett nach grün, die Vektorpfeile flippen dort von „nach unten“ zu „nach oben“.

 Da man in der Analysis stetige Grundfunktionen und zudem offene Definitionsbereiche bevorzugt, beschränkt man sich (mehr oder weniger unglücklich) auf die offene Menge . Die Funktion sqrt :    ist stetig. Der Ausschluss der Null mag künstlich erscheinen, er ist mit Blick auf die mangelnde Differenzierbarkeit bereits der reellen Wurzelfunktion im Nullpunkt aber auch wieder natürlich. Die Null spielt beim Wurzelziehen eine Sonderrolle, sobald wir differenzieren. Kurz: In analytischen Kontexten arbeiten wir bevorzugt mir sqrt auf der geschlitzen Ebene , bei reinen Rechnen können wir uns ganz  gönnen, sodass zum Beispiel

0  =  sqrt+(0)  =  0,  4  =  sqrt+(−4)  =  2i,  …

Dabei ist Vorsicht geboten:

Der klassische Fehler

Wer sorglos rechnet, erhält

„−1  =  i2  =  12  =  1 1  =  (1)(1)  =  1  =  1“.

Die Verhältnisse werden geklärt durch (Beweis als Übung):

Satz (Multiplkationssatz für Wurzeln)

Seien z, w  ∈  , und sei φ = arg(z) + arg(w)  ∈  ]−2π, 2π ]. Dann gilt:

(a)

zw  =  z w,  falls  φ  ∈  ] −π, π ],

(b)

zw  =  − z w,  falls  φ  ∉  ] −π, π ].

Speziell gilt (a), wenn z und w in H+ liegen.

 Der obige Fehler hat also seine Ursache in der Anwendung einer reellen Regel für die Wurzelfunktion, die in  nicht universell gültig ist. Es gilt arg(−1) = π, sodass φ = 2 π im Multiplikationssatz. In  haben wir mehr Wurzeln als in , aber sie wollen mit Sorgfalt behandelt werden.

 Streben wir Werte in der rechten Halbebene an, so erhalten wir die biholomorphe Funktion − sqrt :    − cl(H) (offener Nebenzweig der Wurzel) und die erweiterte unstetige Bijektion − sqrt+ :    − H+. Für alle z  ∈   gilt

sqrt(z)2  =  (− sqrt(z))2  =  z.

Zwei komplexe Wurzeln einer Zahl unterscheiden sich immer nur um ein Vorzeichen, oder genauer: eine Drehung um π. (Dabei heißt ein w  ∈   eine Wurzel von z, falls w2 = z.)

cana1-AbbIDcomplex_sqrt_2

Die komplexe Quadratwurzelfunktion − sqrt+ :    − H+.

Die Funktion ist für negative reelle Zahlen definiert und dort imaginär-violett.

Riemannsche Flächen (Grundidee)

Eine Zusammenschau der Farbplots für sqrt+ und − sqrt+ zeigt, dass die Diagramme als Paar das gesamte Farbspektrum abbilden (H+ ∪ ( − H+)). Zudem ergänzen sich die Farben an den Unstetigkeitskanten:

Wir durchlaufen den Einheitskeits im ersten Farbplot der Wurzel. Nach einem Halbkreis erreichen wir die Unstetigkeitskante und wechseln nun in das zweite Diagramm, das den i-grünen Farbton stetig aufgreift. Dort durchlaufen wir eine volle Umdrehung von grün über türkis nach violett. An der violetten Unstetigkeitskante wechseln wir wieder zurück in das erste Diagramm und vollenden dort den unterbrochenden Kreisdurchlauf von violett nach rot. Wir können die beiden Diagramme als Blätter übereinanderlegen, an der negativen x-Achse aufschneiden und so „verkleben“, dass ein stetiger vollständiger Farbverlauf entsteht. Der Definitionsbereich der Wurzelfunktion wird mit zwei derartigen Riemannschen Blättern verdoppelt, die Wurzelfunktion ist nun surjektiv. Ein w im ersten Blatt erhält sqrt+(w) als Wurzel, ein w im zweiten Blatt − sqrt+(w).

Die Einschränkung zur Bildung der Umkehrfunktion kann nun entfallen. Jede komplexe Zahl ist Wert der zweiblättrigen Wurzelfunktion. Die Präzisierung dieser Idee führt zur Theorie der Riemannschen Flächen, die wir hier nicht weiter verfolgen. Sie erklärt die Sprechweisen von verschiedenen Zweigen und Schnitten (branch cuts), die im Kontekt von Wurzeln, Logarithmen und anderen Funktionen üblich ist. Für eine n-te Wurzel brauchen wir n-Blätter, für den Logarithmus unendlich viele.

cana1-AbbIDcomplex3d_riems_1

Darstellung der mehrblättrigen Wurzelfunktion mit beiden Zweigen.