Allgemeine Wurzeln
Sei n ≥ 1, und sei potn : ℂ → ℂ definiert durch
potn(z) = zn für alle z ∈ ℂ.(n-te Potenzfunktion, Monome)
Die Funktion potn durchläuft den Farbkreis n-mal. Jedes z ∈ ℂ* besitzt n paarweise verschiedene Urbilder, die n-ten Wurzeln von z. Sie ergeben sich durch wiederholte Drehung einer beliebigen Wurzel w0 um den Winkel τn = 2π/n. Wie bei der Quadratwurzel zeichnen wir als bevorzugte Wurzel-Werte einen Bereich aus, der die positiven reellen Zahlen enthält. An die Stelle der rechten Halbebene treten Winkelsektoren der Ebene. Wir definieren für ein reelles Intervall I:
Sec(I) = { (r, φ)polar | r > 0, φ ∈ I },(unbeschränkter I-Sektor ohne 0)
Sec0(I) = Sec(I) ∪ { 0 },(unbeschränkter I-Sektor mit 0)
Secn = Sec( ] −τn/2, τn/2 [ ), Sec+n = Sec0( ]−τn/2, τn/2 ] ).(Hauptsektoren)
Beispiele
(1) | ℂ* = ℂ − { 0 } = Sec( ] −π, π ] ), ℂ = Sec+1 = Sec0( ] −π, π ] ). |
(2) | ℂ− = Sec1 = Sec( ] −π, π [ ). |
(3) | ] 0, ∞ [ = Sec({ 0 }), Sec0({ π/2, −π/2 }) ist die imaginäre Achse. |
(4) | Halbebenen sind Sektoren. Beispielsweise gilt H = Sec2 = Sec( ] −π/2, π/2 [ ), H+ = Sec+2 = Sec0( ] −π/2, π/2 ]). |
Damit können wir definieren:
Definition (n-te komplexe Wurzeln)
Sei n ≥ 1. Dann definieren wir rootn und root+n durch
rootn = (potn↾Secn)−1, root+n = (potn↾Sec+n)−1.
Wir schreiben auch n anstelle von root+n(z).
Die Funktion rootn heißt der (offene) Hauptzweig der komplexen n-ten Wurzel.
Für alle n ≥ 1 gilt:
rootn : ℂ− → Secn biholomorph, root+n : ℂ → Sec+n bijektiv,
root+n((r, φ)polar) = (n, φ/n)polar für alle r > 0, φ ∈ ] −π, π ], root+n(0) = 0.
Die komplexe dritte Wurzel root+3. Sie ist auf den negativen reellen Zahlen definiert und dort π/3-gelb. Ein Drittel des Farbraums wird angenommen (Farben in Sec+3).
Die gleiche Funktion als Vektorfeld. Hier wird erneut deutlich, dass die Werte auf der negativen x-Achse nicht reell sind. Die Pfeile sind dort nicht waagrecht wie auf der positiven x-Achse. Die Funktion ist auf ] −∞, 0 [ nicht die übliche reelle dritte Wurzel.
Die um τ3 = 2π/3 gedrehte Funktion root+3, d. h. die Funktion f : ℂ → ℂ mit
f (z) = (1, 2π/3)polar root+3(z). Es gilt f (z)3 = z für alle z. Auf der negativen x- Achse sind die Werte negativ reell-türkis, die Funktion stimmt dort mit der üblichen reellen Wurzelfunktion von x3 überein. Es gilt f (−8) = −2, f (−27) = −3.
Schließlich noch die um − τ3 gedrehte Funktion root+3.
Riemannsche Wurzelflächen
Legen wir die drei Farbplots als entlang ] −∞, 0 ] geschlitzte Blätter übereinander und verkleben wir die Blätter an den Schnittkanten so, dass sich stetige Farbübergänge ergeben, so erhalten wir eine anschauliche Riemannsche Fläche für eine Wurzelfunktion, die einen verdreifachten Definitionsbereich besitzt und alle komplexen Zahlen als Werte annimmt. Analoges gilt für allgemeiner für n-te Wurzeln mit n Blättern.
Vergleich mit der dritten reeellen Wurzel
Die dritte reelle Wurzelfunktion wird oft als Umkehrfunktion der injektiven dritten Potenz definiert. Aus der Sicht von ℂ ist diese Definition ungewöhnlich: Diese Wurzel springt vom Hauptzweig beim Nulldurchgang in einen Nebenzweig. Das ist nicht verboten, da sich eine reelle stetige Funktion mit einer natürlichen Definition ergibt. Wir dürfen nur nicht überrascht sein, wenn wir in ℂ Werte wie
root+3(−1) = 1/2 + i /2
erhalten und nicht den vertrauteren Wert −1 wie in der reellen Identität
3 = −1.
(Ein Computerprogramm wie Mathematica gibt zum Beispiel 1/2 + i /2 bei der Berechnung von power(−1, 1/3) aus.) Es gibt für jede komplexe Zahl z ≠ 0 immer drei verschiedene Kandidatinnen für „Wurzel aus z“. Die Frage ist, welche wir wählen. Es gilt
(1/2 + i /2)3 = ((1, π/3)polar)3 = (1, π)polar = −1,
und es bietet sich an, die obere Kante des Sektors S3 in den Definitionsbereich aufzunehmen, so wie wir die nichtnegative imaginäre Achse in die Quadratwurzel aufgenommen haben, um = sqrt+(i) = −1 zu erreichen.
Die genaue Definition der komplexen Wurzelfunktionen ist mit einem gewissen notationellen Aufwand verbunden. Der Autor hofft, dass Überlegungen wie „3 = ?“ den Leser überzeugen, dass dieser Aufwand gerechtfertigt ist. Hat man die Dinge durchdacht, so ist es nicht immer nötig, zwischen sqrt und sqrt+ und den analogen Notation für die höheren Wurzeln zu unterscheiden. Wir können einfach auch sqrt(−1) = i schreiben, solange der Definitionsbereich der Funktion aus dem Kontext klar ist. Verwandt hierzu ist die Sprechweise „die Funktion x2“, die mangels eines Funktionszeichens für die zweite Potenz fast unvermeidbar ist, da alles andere zu umständlich wäre (wir möchten an dieser Stelle noch einmal Werbung für „sq“ machen). Wer genau weiß, was er tut, darf etwas ungenauer sein. Das traditionelle Wurzelzeichen hat leider nicht dazu beigetragen, die Dinge verwirrungsfrei zu vermitteln. Unschlagbar ist letztendlich immer die Form „f : A → B“ mit einem Funktionssymbol f, einem Definitionsbereich A und einem Wertevorrat B. Die Funktionen root3 und root+3 sind verschieden, und genauer ist erste Funktion eine Einschränkung der zweiten.
Potenzreihen
Potenzreihen sind aus der reellen Analysis gut bekannt. In der komplexen Analysis werden sie noch prominenter. Grob gesprochen gilt:
Alles ist eine Potenzreihe.
Genauer sollten wir sagen: „Alles ist lokal eine Potenzreihe.“ Aber das klingt nicht so gut und erinnert nicht an „Alles ist eine Zahl.“ oder „Alles ist gut“.
Dieser sogenannte Standpunkt von Weierstraß führt in den komplexen Zahlen sehr weit. Eine holomorphe Funktion kann auf jeder offenen Kreisscheibe, die im Definitionsbereich der Funktion liegt, als Potenzreihe dargestellt werden (Entwicklungssatz). Gegenbeispiele wie die im Nullpunkt exponentiell flachgepresste Cauchy-Funktion f mit f (x) = exp(−1/x2) für x ≠ 0, f (0) = 0, existieren in der komplexen Ebene nicht. Die komplexe Variante von f ist im Nullpunkt nicht differenzierbar. Die Entwicklung einer Funktion in eine Potenzreihe ist maximal gut möglich und bleibt lediglich bei Singularitäten hängen. Diese grundlegenden Ergebnisse der Differentialrechnung werden üblicherweise mit Hilfe von Integration bewiesen − was man als einen Schönheitsfehler der Theorie ansehen kann oder auch nicht. Es gibt integrationsfreie Beweise des Entwicklungssatzes, aber der seit Cauchy übliche Weg über die Integration bleibt Goldstandard.
Grundlegende Ergebnisse über Potenzreihen
Eine (formale) komplexe Potenzreihe hat die Form ∑n an (z − p)n mit komplexen Koeffizienten an und einem Entwicklungspunkt p ∈ ℂ.
Konvergenz einer Potenzreihe
Der Konvergenzradius R von ∑n an (z − p)n ist gegeben durch
R | = sup { |z| | ∑n an zn konvergiert } |
= sup { z ≥ 0 | (an zn)n ∈ ℕ ist beschränkt } ≤ ∞. |
Der Radius ist unabhängig von p. Er kann mit 1/∞ = 0, 1/0 = ∞ berechnet werden durch
R = ( limsupn n )−1, (Formel von Cauchy-Hadamard)
R = ( limn |an + 1/an| )−1, falls der Limes existiert.(Formel von Euler)
Wir setzen
K = { z ∈ ℂ | ∑n an (z − p)n konvergiert }.(Konvergenzbereich)
Dann gilt UR(p) ⊆ K ⊆ cl(UR(p)). Über die Konvergenz der Reihe auf dem Rand ∂UR(p) sind (auch in ℂ) keine allgemeinen Aussagen möglich.
Wie in ℝ gilt:
Satz (normale Konvergenz von Potenzreihen)
Eine komplexe Potenzreihe mit Entwicklungspunkt p und Konvergenzradius R konvergiert für alle r < R auf der kompakten Kreisscheibe cl(Ur(p)) absolut und gleichmäßig, sodass sie auf der offenen Konvergenzkreisscheibe UR(p) normal konvergiert.
Potenzreihen können auf ihrem Konvergenzkreis wie Polynome differenziert werden. Der Beweis für ℝ bleibt ebenfalls gültig und zeigt einen für die Theorie sehr bedeutsamen Satz:
Satz (gliedweises Differenzieren von Potenzreihen, Koeffizientenformel)
Sei ∑n an (z − p)n eine Potenzreihe in ℂ mit Konvergenzradius R > 0. Sei U = UR(p) und f : U → ℂ mit
f (z) = ∑n an (z − p)n für alle z ∈ U
die durch die Potenzreihe definierte Funktion auf U. Dann gilt:
(a) | f : U → ℂ ist holomorph mit f ′(z) = ∑n ≥ 1 n an (z − p)n − 1 für alle z ∈ U. Die Potenzreihe für f ′ hat erneut den Konvergenzradius R. |
(b) | Die Funktion f ist glatt (d. h. beliebig oft differenzierbar). Für alle k ∈ ℕ und z ∈ U gilt: f (k)(z) = ∑n ≥ k n[ k ] an (z − p)n − k = ∑n ≥ k n!(n − k)! an (z − p)n − k, ak = f (k)(p)k!.(Taylor-Koeffizientenformel) Die Potenzreihe ist also die Taylor-Reihe von f im Entwicklungspunkt p. |
(c) | Die Funktion F : U → ℂ mit F(z) = ∑n ann + 1 (z − p)n + 1 für alle z ∈ U ist eine Stammfunktion von f. |
Der (noch nicht bewiesene) Entwicklungssatz zeigt vielleicht am schönsten, warum die einmalige komplexe Differenzierbarkeit die beliebige komplexe Differenzierbarkeit nach sich zieht: Eine einmal differenzierbare Funktion ist lokal eine Potenzreihe, die beliebig oft gliedweise differenziert werden kann. In ℂ fällt die reelle Hierarchie
„differenzierbar, stetig differenzierbar, zweimal differenzierbar, …“
in sich zusammen. Es gibt stetig und holomorph. Und die holomorphen Funktionen sind, so weit es nur geht, die Potenzreihen. Was für eine wunderbare Welt.
In der Situation des Satzes sind die Koeffizienten an bereits durch die Werte von f auf den reellen Zahlen festgelegt. Für alle k gilt f (k)↾ℝ = (f↾ℝ)(k)). Zudem errechnet sich der Konvergenzradius R aus den Koeffizienten. Hieraus folgt, dass eine Fortsetzung einer Potenzreihe von ℝ nach ℂ eindeutig bestimmt ist und die Form übernommen werden kann.
Beispiele
Ein komplexer Kosinus cos : ℂ → ℂ hat notwendig die Form
cos(z) = ∑n (−1)n z2n/(2n)! für alle z ∈ ℂ.
Aus dem gliedweisen Differenzieren ergeben sich mit den aus ℝ übernommenen („ersetze x durch z“), aber nun auf ganz ℂ konvergenten Reihendarstellungen die Ableitungen:
exp′(z) = exp(z),
cos′(z) = − sin(z), sin′(z) = cos(z),
cosh′(z) = sinh(z), sinh′(z) = cosh(z),
Diese Funktionen und ihre Reihen werden wir in den folgenden Kapiteln genauer betrachten.
Der Grenzwertsatz von Abel
In ℝ hatten wir gezeigt:
Satz (Abelscher Grenzwertsatz, reelle Version)
Sei ∑n an (x − p)n eine reelle Potenzreihe mit Konvergenzradius R und Konvergenzbereich K. Ist p + R ∈ K, so konvergiert die Reihe gleichmäßig auf [ p, p + R ]. Analoges gilt im Fall p − R ∈ K. Insbesondere ist die zugehörige Funktion f : K → ℝ stetig.
Aus den Randpunkten p ± R von K wird in ℂ der Kreis ∂UR(p). Die Inspektion des Beweises zeigt, dass in ℂ die Stetigkeit bei radialer Annäherung gültig bleibt:
Satz (Abelscher Grenzwertsatz, komplexe Version)
Sei ∑n an (z − p)n eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R und Konvergenzbereich K. Weiter sei w ∈ ∂ K. Dann konvergiert die Reihe gleichmäßig auf der Strecke [ p, w ] = { p + t (w − p) | t ∈ [ 0, 1 ] }. Insbesondere gilt
limz → w, z ∈ [ p, w ] f (z) = f (w).(radiale Stetigkeit)
Ausblick: Stetigkeit auf dem Rand
Abel bewies seinen Satz im Jahr 1828. Die komplexe Version wurde von Stolz 1875 erweitert: Anstelle einer Strecke können wir ein Dreieck, das bis auf die Ecke w im Inneren von K liegt, zulassen. Dort ist die Konvergenz gleichmäßig. Die volle Stetigkeit auf K (bei „gekrümmter“ Annäherung an w) gilt überraschenderweise nicht (Hardy und Littlewood 1912). Sierpinski hat 1916 eine Potenzreihe ∑ an zn mit K = cl(U1(0)) konstruiert, die auf dem Rand von K unbeschränkt und damit unstetig ist (die Reihe konvergiert für alle z mit |z| = 1).
Wenn auch das allgemeine Konvergenz-Problem auf dem Rand des Konvergenzkreises schwierig, so gibt es doch Spezialfälle mit einer einfachen Lösung. In der „Analysis 1“ hatten wir gezeigt:
Satz (komplexe Potenzreihen mit monotonen Nullfolgen)
Sei (an)n ∈ ℕ eine monoton fallende Nullfolge in ℝ. Dann konvergiert die Potenzreihe ∑n an zn für alle z ∈ ℂ mit |z| ≤ 1, z ≠ 1.
Beispiele
(1) | Die geometrische Reihe ∑n zn hat den Konvergenzradius R = 1 und den Konvergenzbereich K = U1(0). Für alle z mit |z| ist ∑n zn divergent, da die Summanden keine Nullfolge bilden. |
(2) | Die Reihe ∑n ≥ 1 zn/n konvergiert nach dem Satz für alle z ∈ U1(0) mit z ≠ 1. Für z = 1 ist die Reihe die divergente harmonische Reihe. |
Potenzreihenentwicklung
Potenzreihen tauchen so häufig auf, dass wir einige griffige Sprechweisen und Notationen brauchen.
Definition (Darstellbarkeit, Entwicklung)
Sei f : P → ℂ holomorph. Ist p ∈ P, so ist f bei p als Potenzreihe darstellbar oder in eine Potenzreihe entwickelbar, falls es an ∈ ℂ und ein ε > 0 gibt mit Uε(p) ⊆ P und
f (z) = ∑n an (z − p)n für alle z ∈ Uε(p).
Gilt dies für alle p ∈ P, so heißt f (lokal) darstellbar als Potenzreihe.
Die Koeffizienten einer Darstellung sind nach der Taylor-Formel an = f (n)(p)/n! eindeutig. Wir schreiben auch kurz:
f (z) = ∑n an (z − p)n bei p,
ohne Uε(p) explizit zu erwähnen.