Rationale Funktionen und ihre Polstellen
Sind f, g : ℂ → ℂ Polynome mit g ≠ 0, so liefert die punktweise Division f/g eine Funktion h, die an den Nullstellen des Nenners nicht definiert ist. Es gilt also h : P → ℂ mit P = ℂ − N, N = { z ∈ ℂ | g(z) = 0 } endlich und
h(z) = f (z)g(z) für alle z ∉ N.
Wie in ℝ ist jede Definitionslücke p ∈ N entweder hebbar (h lässt sich stetig nach P ∪ { p } fortsetzen) oder ein Pol (limz → p f (z) = ∞).
Der Körper der rationalen Funktionen
Wir schließen alle Definitionslücken automatisch (ohne neue Funktionsnamen zu vergeben). Mit dieser automatischen Vervollständigung des Definitionsbereichs erhalten wir den Körper der rationalen komplexen Funktionen mit der punktweisen Addition und Multiplikation. Das Nullpolynom ist die 0 und das konstante 1-Polynom die Eins des Körpers.
Ist p eine Polstelle einer rationalen Funktion f, so können wir f (p) = ∞ setzen. Damit gilt f : ℂ → ℂ. In der Riemannschen Zahlenkugel ist diese Fortsetzung besonders anschaulich − und stetig: An eine Polstelle gilt ja limz → p f (z) = ∞.
Beispiel
Seien f, g die rationalen Funktionen mit f (z) = z und g(z) = 1/z für z ≠ 0, und sei h = f · g. Dann ist h an der Stelle 0 zunächst nicht definiert. Durch die stetige Fortsetzung „h(0) = 1“ erhalten wir h = 1, sodass f und g im Körper der rationalen Funktionen invers zueinander sind. Es gilt also f · g = 1, f = 1/g, g = 1/f.
Vielfach nützlich sind Vielfachheiten von Null- und Polstellen. Wir erhalten sie beide mit Hilfe einer Ordnungsfunktion:
Definition (Ordnungsfunktion für rationale Funktionen)
Sei f eine rationale Funktion mit f ≠ 0, und sei p ∈ ℂ. Dann existiert ein größtes k ∈ ℤ, sodass die rationale Funktion f (z)/(z − p)k beschränkt bei p ist. Wir setzen op(f) = k und nennen k die Ordnung von f bei p. Weiter setzen wir op(0) = ∞ für das Nullpolynom (für alle p ∈ ℂ).
Ist p ein Pol von f, so sagen wir, dass die Ordnung |oh(p)| besitzt. Zum Beispiel hat f (z) = 1/z2 die Polstelle 0 zweiter Ordnung mit of(0) = −2.
Die Definition der Ordnungsfunktion ist kurz, aber es ist vielleicht hilfreich, die Ordnungszahl noch etwas intuitiver zu formulieren. Wir stellen hierzu zusammen:
Eigenschaften der Ordnung von Nullstellen und Polen
Ist f (p) = 0, so ist k = op(f) die algebraische Vielfachheit der Nullstelle p. Die Zahl k ist charakterisiert durch die Existenz einer rationalen Funktion g mit
f (z) = (z − p)k g(z), g(p) ≠ 0.(maximales Abspalten der Nullstelle)
Ist p ein Pol von f der Ordnung k = |op(f)|, so hat (z − p)k f (z) eine stetige Fortsetzung in p. Die Zahl k ist minimal mit dieser Eigenschaft.
Eine Nullstelle p von g ist genau dann eine hebbare Definitionslücke von f/g, wenn op(f) ≥ op(g).
Für alle rationalen Funktionen und alle p ∈ ℂ gilt (mit den üblichen Regeln für den symbolischen Wert ∞):
(a) | op(f + g) ≥ min(op(f), op(g)),(Summenregel) |
(b) | op(fg) = op(f) op(g).(Produktregel) |
Ein Beispiel für eine echte Ungleichung in (a) ist f = 1 + z, g = − 1.
Beispiel
(a) | Für f (z) = (z − 1)5(z + 1)/(z − 1)3 gilt o1(f) = 5 − 3 = 2. Nach der automatischen stetigen Fortsetzung „f (1) = 0“ hat f eine doppelte Nullstelle bei 1. |
(b) | Für g(z) = (1/z)/(1/z3) = z2 gilt o0(g) = −1 − (− 3) = 2. |
Polstellen in Farbplots
Bei der Farbkreismethode ist der symbolische Wert ∞ der erweiterten Zahlenebene ℂ automatisch implementiert: Die Farben verblassen entlang von Halbstrahlen, die im Nullpunkt ausgehen. Damit entspricht der symbolische Wert ∞ der Farbe „weiß“. Die Riemannsche Zahlenkugel ist schwarz im Südpol und in der Umgebung des Südpols satt gefärbt. Ihre Farben verblassen, je weiter wir uns dem reinweißen Nordpol nähern. Polstellen von rationalen Funktionen erscheinen in unserem Farbdiagrammen als weiße Punkte mit blassen Umgebungen. Die Färbung kann in einer größeren Umgebung der Polstelle unkenntlich sein. Die sich ergebenden Nebelschwaden sind zwar geheimnisvoll-anmutig, aber naturgemäß in ihrem Informationsgehalt beschränkt. Es kann daher zur Untersuchung von Polstellen sinnvoll sein, die Farbintensität umzukehren und Pole schwarz und Nullstellen weiß zu färben. Wir kommen bei den wesentlichen Singularitäten darauf zurück. Alternativ bieten sich 3d-Plots an.
Wir betrachten eine Reihe von instruktiven Beispielen für rationale Funktionen. Die rationale Funktion par excellence ist dabei die Funktion f : ℂ* → ℂ mit f (z) = 1/z für z ≠ 0. Sie wird in der Integrationstheorie eine Schlüsselrolle spielen − noch mehr als im Reellen.
f : ℂ* → ℂ mit f (z) = 1/z. Die Farben verblassen, wenn wir uns zum Ursprung bewegen, der Polstelle von f mit der symbolischen Farbe weiß. Auffällig ist die Spiegelung der Farben der Grundfärbung an der x-Achse (äquivalent: Umkehrung des Durchlaufssinns rot-grün-türkis-violett der Grundfärbung). Sie wird durch arg(1/z) = − arg(z) erklärt.
Die gleiche Funktion als Vektorfeld.
3d-plot von f (z) = 1/z2 für z ≠ 0 mit einem doppelten Durchlauf des Farbraums.
f (z) = 1/z3 für z ≠ 0. Der immer größer werdende „weiße Fleck“ entspricht dem schnelleren Wachstum der Funktion an der Polstelle 0. Er ist genauer ein „sehr blasser Fleck“, da jeder Punkt mit Ausnahme des Nullpunkts eine Farbe des Farbkreises besitzt.
f (z) = 1/(z2 − 1) = (z − 1)−1 (z + 1)−1 für z ≠ 0. Die Werte auf dem Achsenkreuz sind reell.
f (z) = (z − 1)−1 (z + 1)−2 für z ≠ 0 (doppelte Polstelle bei −1)
f (z) = (z − ζ0)−1 · … · (z − ζ4)−1 mit den fünften Einheitswurzeln ζ0, …, ζ4.